28.07.2024
Euphemismus, also das wohlwollende Umschreiben negativer Dinge, ist den meisten ein Begriff. Weniger bekannt ist die negative Form des Euphemismus: der „Dysphemismus“. Dinge werden so beschrieben, dass sie negativer klingen als sie sind. Einen dieser Begriffe hat man bis vor kurzem noch im Geschichtsunterricht gelernt: Die Machtergreifung von 1933. "Machtergreifung". Das klingt nach Putsch, nach gewaltsamer Übernahme. Aber genau das war es nicht. Was die Deutschen sich lange Zeit nicht eingestehen wollten: die NSDAP hat im Januar 1933 mit absoluter Mehrheit eine demokratische Wahl gewonnen. Und auch alles, was darauf hinführte und was in den ersten Monaten danach geschah, war zu 100% von der Weimarer Verfassung gedeckt. Hitler hebelte das System sozusagen mit den Werkzeugen aus, die ihm legal zur Verfügung standen. Selbst der Todesstoß für die Republik, das Ermächtigungsgesetz zwei Monate nach der Wahl, war als eine sogenannte "Notverordnung" durch Art.48 der Verfassung gedeckt. Es war ein Staatsstreich von innen heraus. Und so wurde aus einer Demokratie eine Diktatur. Vier Dinge waren für den Weg in die Katastrophe unverzichtbar: Ein Führerkult, dem sich möglichst viele Menschen anschließen. Ein Feindbild, auf das diese Menschen mit den immer gleichen verlogenen Narrativen eingeschworen wurden. Das Einsetzen von Medien zur Manipulation und ein System, das eine solche Machtübernahme zulässt.
Der "Fahrplan"
Die beiden US-Rechtsanwälte Paul Dans und Steven Groves brachten im Jahr 2023 ein Buch heraus, das den Titel „Mandate for Leadership. The Conservative Promise“ trägt. Wer es liest, dem sollte man in erster Linie mal Respekt zollen, weil es fast 1.000 Seiten hat. In ihm finden sich insgesamt 16 Kapitel, die der Frage nachgehen, wie man aus den USA „wieder“ einen konservativen Staat mit „amerikanischen Werten" formt. Dieses Buch mit seinen über 300 „Empfehlungen“ ist ein Art Fahrplan, der beschreibt, wie man mit den Mitteln, die die US-Demokratie bereithält, aus den Vereinigten Staaten eine rechts-konservative Autokratie macht. Wen man entmachten muss, welche Stellen mit wem besetzt werden müssen, wer mehr Rechte bekommen muss und wie man das macht, ohne eine Mehrheit dafür haben zu müssen. Knapp 1.000 Seiten, die ganz offen darüber sprechen, wie man einen solchen Systemsturz angehen sollte. Das Ganze wäre an sich keine große Beachtung wert. Bücher dieser Art gibt es viele. Wäre da nicht der Kurzname, unter dem das Buch wesentlich bekannter ist. Und der lautet: „Project 2025“.
Sie formieren sich
Denn genau das ist der Titel eines Projekts, das aktuell und ganz offiziell von den Unterstützern von Donald Trump für die Zeit nach der nächsten US-Präsidentschaftswahl vorbereitet wird. Im Wesentlichen sind es fünf einflussreiche Organisationen, die es gemeinschaftlich auf ihrer Agenda haben: Da wäre die "Heritage Foundation", eine erz-konservative Denkfabrik, der übrigens auch die beiden Autoren des Buchs angehören. Die rechts-populistische NGO "Turning Point USA“ mit ihrem Chef und engen Trump-Vertrauten Charly Kirk hat ebenso die Finger im Spiel. Außerdem ist da das „Conservative Partnership Institute“, das unter der Leitung von Trumps ehemaligem Staabs-Chef, Mark Meadows Wahlspenden sammelt und das „Center for Renewing America“, das es sich zur Hauptaufgabe gemacht hat, gegen die „Critical Race Theory“ anzugehen, die der Frage nachgeht, wie tief der Rassismus in den Staaten verankert ist und welchen Einfluss er auf das Leben und die Zukunftschancen der Menschen hat. Und schließlich ist da noch „America First Legal“ unter der Leitung von niemand geringerem als dem ehemaligen Trump-Berater Stephen Miller, der als Erfinder der Kampagne „Make America Great Again“ (MAGA) gilt. Zusammen haben diese Organisationen bereits jetzt über 20 Millionen Dollar für ihr „Project 2025“ gesammelt.
Wir erinnern uns? Vier Dinge sind essentiell, um eine Demokratie zu unterwandern und zu stürzen.
1 - Formiere eine Sekte
Grundvoraussetzung für einen solchen Umsturz ist eine möglichst große Menge, absolut loyaler Unterstützer. Nicht diese wankelmütigen Menschen, die alle vier Jahre von ihrem Recht Gebrauch machen, sich frei für einen Kandidaten zu entscheiden. Man braucht keine politischen Unterstützer. Man braucht „Gläubige“. Es geht nicht darum, Menschen auf eine Idee einzuschwören, sondern auf eine Person. Ideen können durch wechselndes Führungspersonal unterschiedlich interpretiert werden – eine Kultfigur bleibt eine Kultfigur. Inhalte sind vollkommen nebensächlich. Auf diese Weise funktionieren alle Sekten und Religionen. Ob Bhagwan in den 70er und 80ern, L. Ron Hubbard bei Scientology oder Jesus in der christlichen Kirche. Die Botschaft alleine genügt nicht. Der Personenkult ist der ausschlaggebende Faktor. Und wenn es dann einmal so weit ist und man aus Unterstützern „Gläubige“ gemacht hat, dann wird das, was gesagt und gefordert wird, auch nicht mehr hinterfragt. Die Menschen beginnen nicht nur unkritisch das nachzuplappern, was ihnen vorgekaut wird, sondern identifizieren sich mit Haut und Haar. Was zum einen bedeutet, dass sie sich als Loyalitätsbeweis nach einem Attentatsversuch auf ihren Führer zum Beispiel das rechte Ohr mit einem Pflaster zukleben. Und was bedeutet, dass sie ihren Glauben bis aufs Messer verteidigen werden. Nicht umsonst waren die blutigsten und brutalsten Kriege immer Glaubenskriege.
2 - Erschaffe ein Feindbild
Um diesen Sektencharakter zu forcieren, muss man den Menschen erzählen, was sie hören wollen und man muss ihnen einen Schuldigen für ihre Probleme liefern. Dabei ist es wichtig, dass dieser Schuldige nicht etwa aus Unkenntnis Schuld auf sich geladen hat oder weil er eine andere politische Einstellung hat. Der politische Gegner wird zum Feind gemacht und dieser Feind tut die falschen Dinge nur aus einem Grund: Er ist verkommen und böse. Alle Lügen und Verschwörungstheorien, die entweder von Trump selbst kommen oder die von seinen Helfer gestreut werden und wurden, haben immer dieses Narrativ im Hintergrund. Seien es Pizzagate, QAnon, die Big Lie (also die „gestohlene Wahl“), die Behauptung der sogenannten Birther, Barack Obama sei kein US-Amerikaner, sondern ein islamistischer Terrorist (schließlich heißt es „Hussein“ mit zweitem Namen) oder die Lüge, Michelle Obama sei in Wirklichkeit ein Mann. Es geht immer darum, dass eine Clique böser Menschen versucht, dem eigenen Volk Schaden zuzufügen. Nur auf diese Weise gelingt es eine Gesellschaft zu spalten. Nur so sorgt man dafür, dass man sich gegenseitig nicht mehr zuhört und dass es keinerlei Grauzonen mehr gibt. Entweder man gehört zu den Guten oder den Schlechten.
3 - Finde ein Vehikel
Irgendwie muss man nun an die Macht kommen. Das ist in den USA nicht ganz so einfach, da in einem Zwei-Parteien-System eine neu gegründete Partei nicht weiterhilft. Also muss man eine kapern. Wann genau hat man das letzte Mal einen vernünftig klingenden Republikaner gehört? Einen, der nicht sofort alle bekannten MAGA-Phrasen aus der Tasche gezogen hat? Einen, dem es augenscheinlich nicht darum ging, politische Stimmung zu machen, sondern das zu suchen, was das Rückgrat einer Demokratie ist – einen Kompromiss. Das ist schon sehr lange her. Denn eigentlich gibt es die Republikaner nicht mehr. Es gibt nur noch eine Gruppe von Trumpisten, die sich Republikaner nennt. Diejenigen, die Trump zu Beginn die Stirn geboten haben, wurden entweder aus dem Amt geschasst oder haben die Seiten gewechselt. Die ehemalige Vorsitzende der Republikaner, Ronna McDaniel, kritisierte im März 2024 den Sturm auf das Kapitol als „inakzeptabel“. Aber erst, nachdem sie Ende Februar aus dem Amt gewählt worden war. Ihre Nachfolgerin: Trumps Schwiegertochter Lara. Es gibt sogar eine Organisation, die sich „Republican Accountability Project“ nennt und deren Ziel es ist, klar zu machen, dass es nicht Grundvoraussetzung für einen Republikaner in den USA ist, durchgeknallt und hasserfüllt zu sein, sondern dass es auch noch Gemäßigte gibt. Die allerdings haben innerparteilich keine Bedeutung.
4 - Nutze das System
Das vom obersten US-Gericht – dem Supreme Court – am 01. Juli 2024 gefällte Urteil wurde in den deutschen Medien eher „im Vorbeilaufen“ behandelt. Dabei ist es eines, das das Zeug dazu hat, später von Historikern als eine Art „Letzter Nagel im den Sarg der US-Demokratie“ bezeichnet zu werden. Denn kurzgefasst steht dort zu lesen, dass der amerikanische Präsident für illegale Handlungen, die er in seiner Amtseigenschaft begangen hat, rechtlich nicht belangt werden kann. Dieses Urteil ist ein absoluter Freifahrtschein, der dem Satz von Trump aus dem Jahr 2016 einen völlig neuen Zungenschlag verpasst. Damals sagte er in einem Interview: „Ich könnte mich auf die Fifth Avenue stellen und jemanden erschießen und würde keinen Wähler verlieren, das ist unglaublich.“ Seit diesem Urteil könnte er genau das tun. Und wer jetzt anführt, dass das Urteil nicht definiert, was „Amtseigenschaft“ bedeutet und dass diese Definition zunächst einmal von anderen Gerichten geklärt werden muss, sobald der Fall eintreten sollte, dem sei nur so viel gesagt: Während seiner Amtszeit war Trump besonders fleißig, wenn es um die Ernennung von Richtern ging. Er installierte über 200 konservative Richter an Bundesgerichten, verteilt auf alle Bundesstaaten der USA. Unter anderem auch im schon erwähnten Supreme Court. Quasi als seine letzte Amtshandlung erhielt hier die erz-konservative Amy Coney Barret einen Sitz in dem 9-köpfigen Gremium, wodurch seit dem fünf Sitze mit republikanischen Richtern besetzt sind. Zu Beginn von Trumps Amtszeit waren es noch drei gewesen.
Umsetzung in die Praxis
Theoretisch ist der Systemumsturz vorbereitet. Aber wie – um Himmels Willen – soll das in einem so großen Land in die Praxis umgesetzt werden? Hier kommen wieder die Organisatoren von „Project 2025“ ins Spiel. Eine ihrer Aufgaben ist unter anderem die Rekrutierung von Trumpisten in der Verwaltung. Denn sie machen keinen Hehl daraus, dass sie sofort nach der Inauguration - also der Amtseinführung im Januar 2025 - nicht, wie sonst bei einer Amtsübergabe üblich, rund 4.000 Beamte an den entscheidenden Stellen der Washingtoner Regierungsverwaltung ersetzen wollen, sondern alle 50.000. Dazu passt ganz gut, dass die Washington Post eine anonyme Quelle zitiert, die darüber berichtet, ein weiter Schritt sei das Ausrufen des Insurrection Act von 1807. Dieser beinhaltet, dass der US-Präsident jederzeit das Militär und die Nationalgarde für polizeiliche Maßnahmen im Inneren in Marsch setzen kann, um zum Beispiel „Revolten“ niederzuschlagen. Und was eine Revolte ist, das definiert natürlich der Präsident selbst. Und wenn sich rückwirkend herausstellt, dass das illegal war – so what? Hat er ja in seiner Amtseigenschaft entschieden.
Wie sagte Trump nochmal auf einer Wahlkampfkundgebung am 27.07.2024 vor der christlich-konservativen Organisation „Turning Action Point“? „Christen, geht raus und wählt, nur diesmal. Ihr werdet es nicht mehr machen müssen. Vier weitere Jahre. Es wird geregelt sein, alles wird gut sein. Ihr werdet nicht mehr wählen müssen.“
12.06.2024
Wer sich ein wenig auf Social Media umsieht, entdeckt immer mal wieder Menschen, die aus dem Ausland kommen, in Deutschland leben und über ihre Eindrücke und Erfahrungen berichten. Diese sogenannten „cultural shock“-Videos können nicht nur sehr unterhaltsam sein – wenn zum Beispiel ein Amerikaner zum ersten Mal ein Fenster sieht, das man „auf Kipp“ stellen kann oder eine deutsche Bäckerei betritt – sondern auch ein bisschen Balsam für die Seele. Wenn eine junge Mutter vollkommen überwältigt davon ist, dass die Behandlung ihres Kindes in der Notaufnahme von der Krankenkasse übernommen wird oder sich restlos begeistert davon zeigt, dass unser Grundgesetz es verbietet, einen Fluchtversuch aus einem Gefängnis zu bestrafen, da gemäß Art. 2.2 die Freiheit der Person unverletzlich ist und deshalb der Freiheitswunsch allein nicht strafbar sein kann. Man sieht diese Videos und denkt sich „Siehste…ist doch nicht alles schlecht hier.“ Allerdings ist genau diese Einstellung etwas, was vielen Menschen mit einem anderen kulturellen Background auffällt: die typisch deutsche Negativität. Diese Fähigkeit, jeden positiven Keim zu entdecken und mit unnachahmlicher Präzision so lange von allen Seiten zu beleuchten, bis man „endlich“ etwas Negatives gefunden hat. Sprich: sich zu verhalten wie die deutschen Medien im Vorlauf auf die Fußball-EM.
Ein Drittel Unfall
Denn es ist schon eine Kunst für sich, eine mehrteilige Dokumentation mit dem Titel "Wir Weltmeister. Abenteuer Fußball-WM 2014" zu produzieren, deren erste Folge knapp 30 Minuten dauert und in der man zunächst mit Weltmeister Benedikt Höwedes auf der berühmten Fähre ins noch berühmtere Hotel „Resort Campo Bahia“ übersetzt, um dann nach wenigen Minuten eine thematische 180-Grad-Wende hinzulegen. Eben noch bauen die Bilder aus Brasilien und die Fernseh-Ausschnitte von 2014 ein gewisses „WM-Feeling“ beim Zuschauer auf und ZACK – denkt sich da die ARD – machen wir einen Schauplatzwechsel und thematisieren quasi aus dem Nichts den schweren Unfall, der sich im Trainingslager vor der Abreise nach Brasilien ereignet hatte. Bei einer PR-Aktion von Mercedes krachte der damalige DTM-Fahrer Pascal Wehrlein in das Fahrzeug eines deutschen Touristen. Damit erklärt sich auch, warum ausgerechnet Benedikt Höwedes – den wohl die wenigsten von uns als erstes nennen würden, wenn sie an das Team von 2014 denken – für die erste Folge der Doku als Hauptperson ausgesucht wurde: Er saß damals auf dem Beifahrersitz des Unfallfahrzeugs. Dunkle Bilder, Regen, bedrohliche Musik, Ausschnitte aus damaligen Nachrichtensendungen, die abgedeckte Unfallstelle, Blaulicht, ein O-Ton mit Höwedes am Unfallort, in dem er erzählt, dass er bis heute Probleme hat, als Beifahrer in einem Auto zu sitzen. Natürlich wird auch der damals ermittelnde Staatsanwalt interviewt, der mehr oder weniger deutlich macht, dass nur keine Anklage erhoben wurde, weil Mercedes dem Unfallopfer damals eine große Summe gezahlt hat. Und das alles nimmt ein Drittel der gesamten Folge ein.
Rassismus statt 4-4-2
Damit hier kein falscher Zungenschlag reinkommt: Natürlich ist es die Aufgabe der Medien, über einen solchen Unfall zu berichten. Und wenn man der Meinung ist, Mercedes habe sich das Schweigen des Opfers erkauft, dann recherchiert das bitte. Die Frage ist eben nur: Muss es unbedingt in einer Doku kurz vor der EM sein, die laut eigener Aussage das „Gefühl 2014“ wiederaufleben lassen will? Eine, die uns auf ein Fußballfest einstimmen soll? Scheinbar ist die Antwort „Ja, muss. Wir hatten zwar seit dem Unfall 3.668 Tage Zeit, den Beitrag zu machen, aber jetzt passt es halt gerade am besten.“ Und während die schottischen Medien ihre Spieler in ihr EM-Quartier nach Garmisch-Partenkirchen begleiten und dafür feiern, dass sie in Trainingsanzug und Gamsbart zusammen mit einer Trachtengruppe „schuhplatteln“ und die türkischen verkünden, wie sehr sich das Team auf die Stimmung in Deutschland freut – und während es bei den dänischen, französischen und englischen Medien um nichts anderes als sportliche Fragen geht oder nach der Stimmung und den Deutschkenntnissen gefragt wird und ob man schon das gute Bier getrunken habe, machen unsere Medien was? Sie konfrontieren unsere Nationalspieler auf deren "Welcome Event" mit den Ergebnissen einer Studie, die für die WDR-Dokumentation „Einigkeit und Recht und Vielfalt“ durchgeführt wurde und in der 20% der befragten Fußballfans sagten, sie würden lieber nur „weiße“ Spieler im Kader sehen. Im Ernst jetzt?
Proseminar Politik
Während also Kylian Mbappé, Harry Kane und Cristiano Ronaldo zu Taktik, körperlicher und geistiger Fitness und Weizenbier befragt werden und verlautbaren lassen, wie stolz sie sind bei der EM für ihr Land antreten zu dürfen und wie sehr sie sich darauf freuen, verlangen wir von unseren Nationalspielern, dass sie spontan und ohne jegliche Vorbereitung eine so hochbrisante Umfrage gesellschaftspolitisch einordnen? Und wenn dann jemand wie Joshua Kimmich genau die richtigen Worte findet, „Wenn man überlegt, dass wir vor einer Heim-EM stehen, ist es schon absurd, so eine Frage zu stellen, wo es eigentlich darum geht, das ganze Land zu vereinen", wird er dafür mit dem entsprechenden „Echo“ bedacht. Kimmich habe gewettert – nein, hat er nicht. Er sei über die Umfrage entsetzt gewesen – nein, war er nicht. Er habe die Umfrage kritisiert – nein, hat er nicht mal im Ansatz. Drei Schlagzeilen, die nicht vom Buxtehuder Boten kamen, sondern von Sport 1, der WELT und dem SPIEGEL. Und alle drei geben das, was Kimmich gesagt hat, entweder komplett falsch oder zumindest ungenau wider. Wohl weil es allen dreien nicht in ihr Konzept passt, dass es Fußballspieler gibt, die ihren Schädel nicht nur für Kopfbälle nutzen und brav nachplappern, was sie auswendig gelernt haben. Kimmich ist genau so einer. Und so diversifiziert er in seiner Antwort, indem er erst mit zwei Sätzen das Thema Rassismus sehr klar abräumt „Gerade, wer im Fußball aufgewachsen ist, weiß, dass das natürlich absoluter Quatsch ist. Fußball ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie man verschiedene Nationen, Religionen und Hautfarben vereinigen kann“ und dann eben die unangenehme Gegenfrage stellt, wie sinnvoll es ist, ihn so kurze Zeit vor dem Turnier mit so etwas zu konfrontieren.
Wenn man böse wäre...
Und auch hier wieder: Nicht falsch verstehen. Das Thema „Rassismus im Sport“ ist ein wichtiges und muss journalistisch bearbeitet werden. Aber es ist eben leider auch kein neues. Im Gegenteil. Das weiß natürlich auch die Sportredaktion des WDR. Wenn man jetzt also böse wäre, könnte man vor diesem Hintergrund zu dem Schluss kommen, dass die Nachfrage bei der Pressekonferenz nichts anderes war als PR für den Film. Und wenn man noch böser wäre, könnte man sogar behaupten, der WDR mache diese PR auf dem Rücken der dunkelhäutigen Fußballer in Deutschland. Denn natürlich ist demjenigen, der die Frage stellt, klar, dass das die Topschlagzeile des Tages wird, dass viele Menschen dann wissen wollen, um welche Doku es geht und sie zumindest mal anklicken. Und mit diesen Klickzahlen kann ich dann hausieren gehen. Ich habe die Doku gesehen und halte sie für durchschnittlich gut und offensichtlich mit der heißen Nadel gestrickt. Wer sich jemals auch nur ansatzweise mit diesem Thema beschäftigt hat, für den liegt hier der Erkenntnisgewinn bei Null. Wer einen wirklich guten Film zu diesem Thema sehen will, der schaut die Doku „Schwarze Adler“. Die wurde 2021 produziert. Das Jahr, in dem die EM 2020 nachgeholt wurde. Allerdings wurde der Film nicht vor, sondern nach dem Turnier veröffentlicht.
Lasst doch den Besten zuhause
Es scheint wirklich eine dieser „typisch deutschen“ Eigenschaften zu sein, dass wir uns damit schwertun, mit einer positiven Grundhaltung an Dinge heranzugehen und eben nicht alles daraufhin zu untersuchen, ob es vielleicht nicht doch negativ sein könnte. Dazu würde gehören, sich einfach mal ohne Netz und doppelten Boden auf die EM zu freuen. Oder man macht es wie ein abgehalfterter Ex-Nationaltorwart. Uli Stein versteigt sich nach zwei Patzern von Manuel Neuer zu der Aussage, Nagelsmann hätte den Bayern-Keeper zuhause lassen müssen. Die eine Sache ist der Neid eines Mannes, der es in drei Jahren insgesamt sagenhafte sechs Mal zwischen die Länderspiel-Pfosten geschafft hat, auf einen, der den Adler über 190-mal auf der Brust getragen hat, mehrfacher Welttorhüter war und – glaubt man wirklichen Fachleuten – international neue Standards für diese Position gesetzt hat. Die andere Sache ist aber eben, ob man als das Fußball-Traditionsmedium namens „kicker“ so einen Blödsinn veröffentlichen muss, um die nächste Negativ-Diskussion vom Zaun zu brechen. Muss man zwei Tage vor dem Eröffnungsspiel in einem Leitartikel klären, wer am Verkauf eines Deutschlandstrikots am meisten verdient? Und muss man ebenfalls zwei Tage vor dem ersten Spiel ernsthaft schier unzählbare Artikel über eine absolute Selbstverständlichkeit schreiben? Denn normalerweise wäre der Umstand, dass das DFB-Team auch ein paar Spiele im Auswärtstrikot absolvieren wird, keine Erwähnung wert. Nur ist das Trikot dieses Mal eben pink. Das sorgt für „Traffic“ und lässt die Kommentarspalten glühen.
The hair in the soup
Bei dem Telekommunikationsanbieter, für den ich mal gearbeitet habe, gab es einmal im Monat einen „international call“. Die PR-Fuzzis von 18 Ländern in einer Telefonkonferenz. Damals habe ich gelernt, dass Vorurteile gegenüber Nationen nicht immer aus der Luft gegriffen sind. Meinem US-Kollegen Nico fiel es extrem schwer, offen zu sagen, wenn er eine Idee schlecht fand, Panisha, die Kollegin aus England, verlor nicht mal unter Extrembedingungen ihre „stiff upper lip“ und Carlo, der italienische Kollege konnte ein „Nein“ in einen minutenlangen Monolog packen. Und ich? Ich war immer auf die Sekunde pünktlich, hatte immer alle Unterlagen, die ich brauchte, vorbereitet und formulierte Kritik offen, ohne vorher ein verbales Schleifchen drumzubinden. Eine weitere typisch deutsche Eigenschaft war sogar so auffällig, dass der „Head of PR“ – der mal ein paar Semester in Frankfurt studiert hatte – irgendwann ein Thema mit den Worten beendete: „If even Christian doesn't find any Haar in der Suppe, what else could go wrong?“
Diese Einstellung ist scheinbar wirklich in unsere DNA eingemeißelt. Im Theaterstück Götz von Berlichingen von Johann Wolfgang von Goethe, also dem deutschesten aller deutschen Dichter, gibt es eine Szene, in der ein Jugendfreund des Raubritters dessen kleinen Sohn das erste Mal sieht. Er nimmt ihn hoch und wünscht von Berlichingen, Gott möge ihm viel Freude an dem Jungen schenken. Und was antwortet der Ritter mit der eisernen Faust? Er haut nicht nur das zweitbekannteste Zitat des Stückes raus – „Wo viel Licht ist, ist starker Schatten“ – sondern fügt wenig euphorisch hinzu: „Wollen sehn, was es gibt.“
28.05.2024
In den 1970er Jahren lief die Maschine „Deutscher Schlager“ auf Hochtouren. Das war die Zeit, in der Komponisten den Hunger der Plattenlabels gar nicht stillen konnten. Ein mehr oder minder sinnvoller Text war schnell geschrieben, aber eine eingängige Melodie? Etwas mit Hitpotenzial? Das ging nicht „mal eben so“ und schon mal gar nicht am Fließband. Also griffen die Verantwortlichen zu einem sehr einfachen, aber erstaunlich erfolgreichen Kniff: Sie nahmen international bereits erfolgreiche Melodien und ließen deutsche Texte dazu schreiben. Manchmal war das dann relativ nah am Original. „Tür an Tür mit Alice“ von Howard Carpendale unterscheidet sich inhaltlich so gut wie gar nicht von „Living Next Door to Alice“ von Smokie und auch „Ein Bett im Kornfeld“ von Jürgen Drews ist nicht weit entfernt von dem, was die Bellamy Brothers in „Let Your Love Flow“ singen. Oft aber hatte der Text absolut nichts mit dem Original zu tun. Es war quasi ein komplett neuer Song mit einer schon bekannten Melodie. In seinem Original „Santa Maria“ besingt Oliver Onions die Schönheit einer Insel. Die junge Dame, die Roland Kaiser in seiner Version verführt, sucht man vergeblich. Und das Lied über die Niederlage der Südstaaten im amerikanischen Sezessionskrieg „The Night They Drove Old Dixie Down“ wurde zum Anti-Drogen-Song „Der Tag als Conny Kramer starb“.
Das ist keine Liebe
Auch ein Song des italienischen DJs und Remixers Gigi D’Agostino erfuhr vor kurzem eine solche inhaltliche Umwidmung. Zu „L‘amour toujours“, der eigentlich die Liebe feiert, grölte eine Gruppe Lacoste-Tommys und Chanel-Annikas auf Sylt die Sätze „Deutschland den Deutschen. Ausländer raus.“ und hielt es dann noch für eine fantastische Idee, ein Video davon zu machen und es auf Social Media zu posten. Fertig war das 5-Sterne-Menü für die Empörungsmaschinerie Internet. Und in deren Wortschatz sucht man Begriffe wie „Verhältnismäßigkeit“ bekanntermaßen vergeblich. Denn – mal ganz ehrlich – was sehen wir denn auf dem Video? Eine Ansammlung von Holbirnen, deren Durchschnitts-Promillewert bei 2,0 liegt. Berufs-Söhne und -Töchter, die das, was da rufen für einen lustigen Partyspaß halten. Dass das für diese selbsterklärten Feinde der Intelligenz wohl wirklich nichts anderes ist, erkennt man doch schon daran, dass sie es filmen und ins Netz stellen. Wie viele Videos von nichtöffentlichen Treffen der AfD kennen wir? Wie viele von der letzten Weihnachtsfeier der Partei „Die Heimat!“ (der neue Name der verbotenen NPD). Keine. Denn auf diesen Veranstaltungen gilt selbst für Mitglieder Handyverbot. Weil diese „Kameraden“ genau wissen, dass das, was sie tun, kein Spaß ist und nicht als ein solcher aufgenommen werden würde.
"Wir haben sie erlegt!"
Aber eine irgendwie geartete Einordnung dessen, was wir da auf Sylt sehen, findet einfach nicht statt. Im Gegenteil. Man hatte ein, zwei Tage das Gefühl, man könne Instagram, TikTok oder X gar nicht mehr öffnen, ohne über den nächsten Post der scheinheiligen Selbstgerechtigkeit zu stolpern. Nicht nur, dass diejenigen, die da zu sehen waren, innerhalb kürzester Zeit von der „Community“ identifiziert wurden, es meldeten sich auch ihre Arbeitgeber. Man sei darauf hingewiesen worden, dass einer ihrer Mitarbeiter auf dem Video zu sehen war und habe ihm fristlos gekündigt. Auch eine Influencerin meldete sich und ließ wissen, sie habe ihre Assistentin erkannt und diese sofort gefeuert. Applaus, Applaus, Applaus. Einmal kräftig selbst auf die Schulter geklopft. Wir sind moralisch ja sooo wertvoll! Die ersten Posts, in denen dann noch einmal alle Beteiligten mit Bild, Vor-, Nachnamen und Wohnort genannt wurden, ließen dann auch nicht mehr lange auf sich warten. Dazu Überschriften wie „Wir haben Euch!“ oder „Wir haben sie erlegt!“
Mit Straftaten gegen Grauzonen
Auch wenn es denn selbsternannten Internet-Sheriffs noch so gegen den Strich geht, gibt es in dieser ganzen Nummer nur eine Gruppe, die sich eindeutig strafbar gemacht hat und – Spoileralarm – es ist nicht die Sylter Partyblase. Ja – gegen die ermittelt der Staatsschutz. Aber der konzentriert sich eher auf die eine Blitzbirne, die meinte, beim Singen noch den Hitlergruß zeigen zu müssen. Denn der ist hierzulande wirklich verboten. Alles andere ist eine rechtliche Grauzone. Gleiches gilt übrigens für die publikumswirksamen und vielgelobten fristlosen Kündigungen. Sollten die Unternehmen in ihren Arbeitsverträgen keinen Passus haben, der politische Meinungsäußerungen bzw. das Verhalten in der Öffentlichkeit abdeckt, ist das mit der Kündigung alles andere als ein Selbstläufer. Denn das hieße, man kündigt einen Arbeitnehmer, weil er in seiner Freizeit das Recht der freien Meinungsäußerung wahrgenommen hat. Nur, wenn der Staatsschutz das Skandierte als strafbaren Rassismus einordnet, klappt das auch mit der fristlosen Kündigung. Ganz anders und wesentlich eindeutiger verhält es sich dagegen mit dem Tatbestand „Doxing“. Damit bezeichnet man das Veröffentlichen von privaten Daten wie Klarnamen, Adressen oder Arbeitsstellen Dritter ohne deren Kenntnis und meist gegen deren Willen. Also das, was die „Vertreter des Guten“ mit den Teilnehmern der Party gemacht haben. Und hier gibt es dann keine Grauzone, sondern den §126a StGB und da laufen, je nach Schwere der Folgen des Doxings, auch gerne mal bis zu drei Jahre Haft oder eine entsprechende Geldstrafe auf die Uhr. Kurz – das ist eine waschechte Straftat.
Hüh, Armin!
Wo sich „ganz normale“ Internetuser auf der Jagd zusammenrotten, ist die Politik nicht weit. Von der Innenministerin über den Bundeskanzler bis zum Ex-Kanzlerkandidaten – wer will nochmal, wer hat noch nicht? Die Reaktionen reichten vom Standard „Fassungslosigkeit“ und „Wohlstandsverwahrlosung“ bis hin zum Post der SPD, der da lautete „Deutschland den Deutschen, die das Grundgesetz verteidigen“ und der nach kurzer Zeit wieder gelöscht wurde. Den Vogel aber hat Armin Laschet abgeschossen. Er war nicht nur entsetzt. Er war auch begeistert. Und zwar davon, dass die persönlichen Daten der Beteiligten gegen deren Willen veröffentlicht wurden. Und er setzte noch einen drauf. Auch der Umstand, dass die Krakeler durch das Video ihren Job verlieren könnten, hieß er ausdrücklich gut...Moment...kurze Pause...das schieben wir jetzt nochmal ganz langsam von links nach rechts: Der ehemalige Kanzlerkandidat der größten Partei dieses Landes, der Ex-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und aktuelle Vizepräsident der Parlamentarischen Versammlung des Europarates billigt Straftaten, weil hinter ihnen die aus seiner Sicht „richtige Gesinnung“ steht.
...so...weiter geht's...
Da war es schon fast beruhigend, zu sehen, dass ausnahmslos alle großen Nachrichtenformate die Gesichter der Beteiligten im Video verpixelt hatten, was natürlich prompt von den so „Friedliebenden“ im Netz mit Beleidigungen, Verschwörungstheorien und Bedrohungen quittiert wurde. Denn – geht es nach dem Digital-Pöbel und Armin Laschet – gelten Persönlichkeitsrechte nicht für alle. Nur für die Anständigen. Ansonsten darf jeder jederzeit der Öffentlichkeit zum Fraß vorgeworfen werden, auch wenn noch gar nicht feststeht, ob das, was er getan hat, überhaupt strafrechtlich relevant ist.
Gesinnung darf nicht zählen
Es hat einen Grund, warum Justitia mit einer Augenbinde dargestellt wird. Und wenn es noch so schwer zu verstehen ist: Es ist gut, dass der Vergewaltiger sich bei seiner Verhandlung hinter einer Mappe verstecken darf. Es ist gut, dass bei der Berichterstattung das Gesicht des Kinderschänders verpixelt wird. Denn das bedeutet, dass Persönlichkeitsrechte für alle gelten. Ungeachtet der Tat oder der Gesinnung und ungeachtet der aktuell mehrheitlich akzeptierte „Denke“. Was, wenn in ein paar Jahren in Deutschland eine Regierung am Ruder ist, die die Rechte der Homosexuellen wieder beschneidet? Was, wenn diese Regierung sogar noch weiter geht und – wie es in Ungarn aktuell Realität ist – bereits das Sprechen über Homo- oder Transsexualität mit unter 14jährigen unter Strafe stellt? Und was, wenn dann ein Video geleakt wird, in dem Menschen zu sehen sind, die gemeinsam heimlich ihren privaten CSD feiern? Wäre es dann nicht gut, wenn man das Recht hätte, unerkannt zu bleiben? Wenn das Gesetz diejenigen vor der Mehrheitsgesinnung des wütenden Mobs schützt?
Wem das Szenario mit dem Homosexuellen-Verbot zu unwahrscheinlich klingt…Wenn Euch jemand im Februar 2021 gesagt hätte, dass die Russen ein Jahr später einen Krieg gegen die Ukraine beginnen und das Land in Schutt und Asche legen würden. Einen Krieg, der inzwischen über zwei Jahre dauert – für wie wahrscheinlich hättet Ihr das gehalten?
Ich habe mit Absicht das, was auf Sylt passiert ist, nicht explizit verurteilt, weil sich das von selbst versteht und keines weiteren Wortes bedarf. Die Frage ist nur, was verurteilungswürdiger ist: Eine Gruppe hirnloser Lullies, die sich im Vollsuff daran aufgeilt, rassistische Parolen zu einem DJ-Remix zu grölen oder Politiker, die aus Angst vor Antisemitismus-Vorwürfen nicht die Eier in der Hose haben, das, was seit Wochen jeden Tag in Gaza passiert, öffentlich als das zu benennen, was es ist: Ein Kriegsverbrechen. Politiker, die aus Angst vor Rassismus-Vorwürfen die Klappe halten, wenn mitten in Paderborn ein 30jähriger von drei Migranten im wahrsten Sinne des Wortes totgetreten wird. Politiker die sich dann aber an einer Gruppe ekelhafter Richkids abarbeiten und sich nicht nur vor einen Karren spannen lassen, sondern diesen auch mit allen Kräften ziehen. Weil sie feige sind und wissen, dass sie von den Sylter Spackos nichts zu befürchten haben.
19.04.2024
In „Minority Report“ spielt Tom Cruise den Polizisten John Anderton im Washington D.C. des Jahres 2054. Er leitet die Abteilung „Precrime“, deren Aufgabe es ist, Verbrechen zu vereiteln, bevor sie geschehen. Hierfür greift er auf die bruchstückhaften Vorhersagen der drei seherisch begabten Klone – genannt „Precogs“ – Agatha, Arthur und Dashiell zu, die er dann zusammen mit seinem Team analysiert, um Täter und Tatort zu ermitteln und so das Verbrechen zu verhindern, bevor es geschieht. Und obwohl die Taten noch gar nicht begangen wurden, werden die „Täter“ verhaftet, vor Gericht gestellt und verurteilt. Eine Dystopie wie aus dem Lehrbuch. Kein Wunder, wenn man weiß, dass die Filmvorlage eine Kurzgeschichte aus der Feder von Philip K. Dick ist, auf dessen Ideen auch Filme und Serien wie Blade Runner, Matrix oder The Man in the High Castle basieren. Der 1982 verstorbene Dick hatte prinzipiell eine ziemlich schlechte Meinung von der Spezies Mensch und seiner emotionalen Entwicklungsfähigkeit.
Reden hilft - nicht immer
Uns allen ist klar, dass es so etwas bereits gibt. Keine hellsichtigen Klone. Aber dass Menschen nur aufgrund bloßer Vermutungen von der Polizei festgehalten, in ihrer Bewegungs- und Meinungsfreiheit eingeschränkt werden, ist in irgendwelchen Autokratien ja nicht unüblich. In Demokratien wie unserer gibt es sowas nicht…naja…das stimmt nicht so ganz.
Denn wie es aussieht, wenn eine Demokratie unglaublich nah am Begriff „Willkür“ entlangschlittert, konnte man sich kürzlich in Berlin ansehen. Dort sollte vom 12. – 14.04. eigentlich der „Palästina-Kongress“ stattfinden. Eine Konferenz, die vorwiegend von linken Organisationen aus ganz Europa unterstützt und gemeinsam vom Vereinigten Palästinensischen Nationalkomitee und der Jüdischen Stimme organisiert wurde. Ihr Ziel: Eine möglichst breite gesellschaftliche und politische Basis für einen sofortigen beidseitigen Waffenstillstand in Gaza schaffen. Und weil diese Organisationen kein Blatt vor den Mund nehmen und sich Begriffe wie „Völkermord“ nicht verbieten lassen, hatte der Kongress mit dem Titel „Wir klagen an“ bereits im Vorfeld die Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden auf sich gezogen. Aus diesem Grund lud die Polizei die Veranstalter vorab zu einem Gespräch ein, das von diesen auch wahrgenommen wurde. Die Sicherheitsbehörden erhielten eine Liste der Redner und man einigte sich unter anderem darauf, die Teilnehmerzahl von geplanten 650 auf 250 zu reduzieren, um – laut Veranstalter – nicht Gefahr zu laufen, mehr Polizisten als nötig vor Ort zu haben. Ein nicht ganz unwichtiges Detail dabei: Laut dem deutschen Versammlungsrecht muss eine politische Veranstaltung in geschlossenen Räumen den Sicherheitsbehörden nicht im Vorfeld angezeigt oder mit ihnen abgestimmt werden. Das alles waren rein deeskalierende Maßnahmen der Veranstalter, um eben keine Probleme zu bekommen.
Vom Netz genommen
Doch kurz nach der Eröffnung passierte genau das. Die Konferenz wurde von exakt der Berliner Polizei gestürmt, mit der die Veranstalter eine Woche zuvor noch an einem Tisch zum Austausch gesessen hatten. Die Beamten drangen in den Veranstaltungssaal ein, verschafften sich mit Gewalt Zutritt zum Technikraum – obwohl ihnen vom Veranstalter der Schlüssel angeboten wurde – und stellten den Strom ab. Grund für diese Aktion war ein Live-Video-Stream des palästinensischen Aktivisten und Historikers Salman Abu Sitta, der gerade seine Begrüßungsrede hielt. Abu Sitta ist ein durchaus streitbarer Mann, der der israelischen Regierung schon lange ein Dorn im Auge ist. In besagter Rede etwa verglich er das derzeitige Vorgehen Israels in Gaza mit Neros Niederbrennen von Rom, dem Völkermord in Ruanda und den Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs. So lange eben, bis die Berliner Polizei ihn vom Netz nahm. Die Begründung: Für Abu Sitta bestünde in Deutschland ein Betätigungsverbot. Eine Behauptung, die bis heute weder von der Polizei selbst noch vom deutschen Innenministerium in irgendeiner Weise belegt wurde und die weder den Veranstaltern noch dem Beschuldigten selbst bekannt war. Kleiner Einschub: Es ist alles andere rechtssicher, dass ein Betätigungsverbot in Deutschland auch für Menschen gilt, die sich nicht auf deutschem Boden befinden und – wie hier – per Video zugeschaltet werden. Alles egal. Trotz Widerspruchs mehrerer Juristen direkt vor Ort, wurde das Video beendet. „Gefahr im Verzug“ geht immer. Aber die Polizei unterbrach nicht nur das Video. Sie beendete den kompletten Kongress, der gerade einmal zwei Stunden alt war. Alle Anwesenden mussten ihre Personalien abgeben und wurden des Platzes verwiesen.
Grundlose Verweigerung
Wer nun glaubt, dieser Einsatz der Berliner Polizei stünde rechtlich zumindest mal nicht auf den sichersten Füßen, der konnte sich fast zeitgleich am Berliner Flughafen davon überzeugen, dass es immer noch eine Nummer dreister geht. Denn dort verhinderte die Bundespolizei die Einreise zweier anderer Männer. Zum einen war dies der Rektor der University of Glasgow und Onkel von Salman Abu Sitta – Ghassan Abu-Sittah. Dieser ist ebenso wie sein Neffe gebürtiger Palästinenser und Aktivist. Über seinen „X“–Kanal berichtet er täglich über die Gräuel in Gaza. Hier findet man dann auch Äußerungen, die zwar eventuell menschlich und in dieser Situation verständlich sein mögen, aber als Aussage ein absolutes „No Go“ sind. „Wir wissen, dass Israel uns sowieso töten wird. Wir verhungern, wir werden belagert, wir werden enteignet, wir werden vertrieben. […] Israel will uns auf den Knien haben…also warum nicht zurückschlagen und wenigstens in Würde sterben?“ Ein bestehendes Betätigungsverbot gegen diesen Mann durchzusetzen und ihn nicht nach Deutschland einreisen lassen, wäre nachvollziehbar gewesen. Dabei gibt es nur ein Problem: Es bestand im Falle von Ghassan Abu-Sittah kein Betätigungsverbot. Laut seiner Angaben wollte er in seiner Rede über seine aktuelle Tätigkeit in Gaza berichten. Dort ist er nämlich seit Monaten als plastischer Chirurg für „Ärzte ohne Grenzen“ im Einsatz.
Ein alter Bekannter
Beim zweiten Herrn, der an diesem Tag nicht bundesrepublikanischen Boden berühren durfte, folgte dann die Kirsche auf der Sahnehaube dieser Willkür-Komödie. Dabei handelte es sich um einen Mann, den wir alle noch sehr gut aus der Griechenlandkrise kennen: Yanis Varoufakis. Der ehemalige griechische Finanzminister sitzt inzwischen mit seiner eigenen Partei DiEM25 im griechischen Parlament und kandidiert für die Europawahlen. Varoufakis, bekanntermaßen ein Freund der eher undiplomatischen Äußerung, war ebenfalls als Redner angekündigt worden. Er ist kein Moslem, kein Araber, kein Palästinenser. Gegen ihn lag nichts vor. Kein Haftbefehl, kein Betätigungsverbot. Und dennoch wurde er schlicht nicht ins Land gelassen. Die Begründung dafür muss man sich wirklich in aller Ruhe zu Gemüte führen. Der offizielle Grund für die Einreiseverweigerung war wegen Varoufakis‘ – und das ist ein Originalzitat der Berliner Polizei – „möglichen Teilnahme als Redner beim Palästina-Kongress 2024 in Berlin“.
Der Professor mit dem Kronleuchter in der Küche...?
Die Romane von Agatha Christie sind oft voller handelnder Personen, die alle ihre eigenen Geschichten haben. Deshalb hat sich die Krimi-Königin den Kniff mit den typischen „Christie-Showdown“ ausgedacht. Am Ende jedes Romans holt der Detektiv noch einmal alle Beteiligten in einen Raum und zieht seine Schlussfolgerungen. Und weil auch hier das Wesentliche durch all die Namen und handelnden Personen unterzugehen droht, hier nochmal die Essenz – sozusagen in bester Poirot-Manier:
Zwei durchaus streitbare Organisationen planen einen Kongress auf dem Boden eines – nach eigenem Bekunden – freiheitlich-demokratischen Staates, bei dem durchaus streitbare Redner ans Pult treten oder per Video zugeschaltet werden sollten. Die Polizei erfährt, laut eigener Aussage, aus den Medien davon und bittet zum Vorab-Gespräch. Die Organisatoren willigen ein, obwohl sie das rein rechtlich nicht müssten. Unter anderem reduzieren sie die Teilnehmerzahl, um möglichst schon vorab zu deeskalieren. Außerdem erhält die Polizei vorab eine Liste der geplanten Redner, auf der sich auch die Namen Salman Abu Sitta, Ghassan Abu-Sittah und Yannis Varoufakis befinden. Davon, dass nach Auffassung der Behörden gegen mindestens einen der drei ein Betätigungsverbot vorliegt, setzt die Polizei die Organisatoren nicht in Kenntnis.
Und genau das ist dann der Grund, warum eine Woche später eine Hundertschaft die Konferenz sprengt und beendet. Wohlgemerkt – die Option, nur das Video abzustellen und die Konferenz, die gerade einmal zwei Stunden alt war, dann unter Auflagen fortsetzen zu lassen, hätte auch bestanden. Zeitgleich werden zwei andere Redner, gegen die nichts vorliegt, am Flughafen abgefangen und daran gehindert, deutschen Boden zu betreten. Und wer die Arbeitsweise der Polizei kennt, der weiß auch, dass solche Aktionen nicht aus der Hüfte geschossen werden, dafür gibt es Vorbereitungsphasen, Einsatzpläne, etc… Sprich: Sie werden von langer Hand geplant. Und das lässt eigentlich nur einen Schluss zu:
Der Palästina-Kongress in Berlin sollte, auf wessen Anweisung auch immer, von Anfang an verhindert werden. Da man ihn aber nicht „einfach so“ verbieten konnte, hat man den Organisatoren gegenüber wichtige Informationen zumindest zurückgehalten, um auf Basis dieser Informationen agieren zu können. Bis zum heutigen Tag lieferten weder Polizei noch das BMI, trotz Anfragen verschiedener Medien und der Veranstalter, Nachweise über Betätigungsverbote oder andere, solche Aktionen rechtfertigenden Gründe. Einzig die Innenministerin textete auf „X“: "Es ist richtig und notwendig, dass die Berliner Polizei hart durchgreift beim sogenannten Palästina-Kongress. Wir dulden keine islamistische Propaganda und keinen Hass gegen Jüdinnen und Juden". Sie schreibt das wohlgemerkt über eine Veranstaltung, die zu 50% von Jüdinnen und Juden organisiert wurde.
Was bleibt
Zum einen bleiben die Schwachsinns-Schlagzeilen der ewigen „Zündler“ wie der NZZ, die „vom grossen Treffen der Israel-Hasser in Berlin“ schwadronieren. Menschen wie Carsten Maschmeyer, der Duz-Freund von Gerhard Schröder, der mit seiner Abzockerbude AWD unzählige Menschen in den Ruin getrieben hat, schwingen sich zur moralischen Stimme dieses Landes auf und fordern, dass die Teilnehmer des Kongresses „zurück ins Heimatland“ geschickt werden. Und es bleibt dieses ungute Gefühl von politischen Akteuren, die ihre Aufgabe endgültig nicht mehr darin sehen, die demokratischen Rechte der Menschen im eigenen Land, wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit, zu schützen, sondern viel eher danach gehen, welche Haltung und Handlung von ihnen – von welcher Seite auch immer – gewünscht und gefordert wird.
Die WELT – die intellektuelle Version des journalistischen Bodensatzes, der sich BILD-Zeitung nennt, hat sich natürlich auch nicht lumpen lassen. Sie identifiziert einen „Linksradikalen“ als den Haupttreiber der „Israel-Hasser“ und als "Gefahr für die freiheitliche Grundordnung dieses Landes". Und weil das Leben immer noch der beste Satiriker ist, gab genau diese WELT einen Tag vor diesem Artikel in ihrem Fernsehsender dem Faschisten Björn Höcke in einem „TV-Duell“ 73 Minuten Prime-Time-Sendezeit.
12.04.2024
Irgendein Fußballspiel, irgendwo auf der Welt. Ein Spieler foult den anderen. Der Schiedsrichter pfeift, marschiert zielstrebig auf den „Täter“ zu und zückt die gelbe Karte. Das ist der Moment, in dem sich normalerweise eine wild gestikulierende Menge um den Unparteiischen schart, die auf ihn einredet. Die simple Frage an dieser Stelle wäre: Warum? Warum machen sie das? Warum rottet sich die Mannschaft zusammen und versucht den Schiri umzustimmen? Denn ihnen ist vollkommen klar, dass das nicht passieren wird. Es gibt keinen einzigen registrierten Fall in der langen Geschichte des Fußballs, in dem ein Schiedsrichter auf Drängen von Spielern der „Tätermannschaft“ eine Karte zurückgenommen hat. In letzter Zeit ist es zwar ein paar Mal vorgekommen, dass ein Schiri die Bestrafung geändert hat, aber nur, weil der VAR eingeschritten war und ihn gebeten hatte, sich die Szene noch einmal anzusehen. Allein auf Drängen der Spieler? Nein. Und dennoch. Sie tun es immer wieder. Wider besseren Wissens. Wie in einem Reflex. Als könnten sie nicht anders…
Alarmsignale
Der Roman „Der Schwarm“ von Frank Schätzing erhielt ein paar Monate nach seinem Erscheinen im Jahr 2004 einen nicht geplanten PR-Schub, über den niemand – noch nicht einmal der Autor – glücklich war, weil er sich im Schatten einer der größten Naturkatastrophen der Geschichte ereignete. Der Tsunami im Indischen Ozean am 26. Dezember 2004, der über 200.000 Menschen das Leben kostete und Millionen obdachlos machte, schrieb viele traurige, herzzerreißende Geschichten, aber eben auch positive. Eine davon ist die der deutschen Familie, die in Thailand ihren Weihnachtsurlaub verbrachte. Der 16jährige Sohn hatte den damals fast druckfrischen Schätzing-Roman dabei. In ihm beschreibt der Autor sehr genau wie ein Tsunami entsteht, wie er seine tödliche Wucht entwickelt, was ihn von „normalen Sturmfluten“ unterscheidet und mit welchen Vorzeichen er sich ankündigt. Als der Sprössling am zweiten Weihnachtsfeiertag am Stand lag, sah er exakt diese Vorzeichen, von denen er kurz zuvor noch gelesen hatte. Er rannte in den Urlaubsbungalow, packte seine Eltern, die bis heute nicht sagen können, warum sie ihm sofort geglaubt haben, und flüchtete mit ihnen auf eine Anhöhe. Nur wenige Minuten später kam die Welle. Die Familie überlebte.
Who's the bad guy?
„Der Schwarm“ ist ohne Frage einer der besten deutschen Belletristik-Romane aller Zeiten. Das liegt natürlich zum einen an der grandiosen Grundidee: Eine uralte Spezies, die die Ozeane schon Millionen Jahre bevölkerte, bevor der homo sapiens die Erde betrat, sagt den Menschen den Kampf an. Dabei gehen diese „Aliens“ strategisch klug und mit tödlichem Erfindungsreichtum vor. Sie warnen nicht, sie verhandeln nicht, sie geben keine Schonfrist. Für ihren Kampf nutzen sie das komplette Arsenal, das ihnen zu Verfügung steht: Tusnamis ausgelöst durch Milliarden von Tiefseewürmern, blinde Krabben, die das New Yorker Grundwasser mit einem tödlichen Virus kontaminieren, unzählige Muscheln, die sich binnen kürzester Zeit an die Rümpfe von Schiffen heften und diese zum kentern bringen, Wale, Haie und Delfine, die sich zusammentun, um scheinbar wahllos Schiffe anzugreifen. Der Grund für all das: Die Spezies Mensch hat die Erde lange genug zerstört. Dem soll nun ein Ende gesetzt werden. Und das ist der Twist, der den Roman so besonders macht. Während die Menschheit in Filmen wie „Independence Day“ von außen angegriffen wird, sich verteidigen muss und schließlich den bösen Aggressor besiegt, hat Schätzing die Rollen vertauscht. Der Leser erkennt nicht sofort, aber nach und nach: In dieser Geschichte ist der Mensch – sind wir – der böse Eindringling, gegen die man sich zur Wehr setzt.
Erfolgreich? Eher so mittel...
Endgültig klar wird das in einem Monolog, den Schätzing die Gen-Forscherin Sue Oliviera über die Evolution halten lässt: „Nehmen wir doch mal für einen Moment an, dass wir nicht die Krone der Schöpfung sind.“ Was, wenn unsere Spezies einfach nur ein kleiner, unbedeutender Seitenarm der Evolution ist, dessen Niedergang bereits jetzt beschlossene Sache ist? Eine missglückte Variante? Einer von Milliarden Versuchen, die sich seit der Entstehung der Erde entwickelt haben, wieder ausgestorben sind und die heute niemand mehr kennt? Sang- und klanglos untergegangen. Eine der erfolgreichsten Spezies der Erdgeschichte, die Dinosaurier, hat diesem Planeten rund 170 Millionen Jahre langen ihren Stempel aufgedrückt. Und das wäre auch wahrscheinlich noch lange so weitergegangen, wäre diese Herrschaft nicht durch äußere Einflüsse beendet worden. Der homo sapiens, die selbsternannte „Krone der Schöpfung“ hat mit ihren 300.000 Jahren gerade mal knapp 2% dieser Zeit auf dem Buckel. Innerhalb dieses Wimpernschlags der Erdgeschichte hat er es aber geschafft, sich verdammt nah an die Klippe zu manövrieren. Und er hat dafür weder einen Meteoritenhagel, noch monatelange Vulkanausbrüche oder jahrelange Dunkelheit auf der Erde gebraucht. Insofern können wir schon mal eines ganz objektiv feststellen: Besonders erfolgreich sind wir – was die langfristige Arterhaltung angeht – nicht gerade. Aber vielleicht ist das gar nicht unsere Schuld? Vielleicht können wir nicht anders?
Wenn zwei sich streiten
Ohne Frage sind wir, was die Hirnleistung angeht, ganz oben in der Evolutions-Pyramide. Intellektuell die absoluten Top-Prädatoren. Die Ernährung und die Lebensweise unserer Vorfahren haben dafür gesorgt, dass sich unser Gehirn in Quantensprüngen weiterentwickelt hat. Sprachfähigkeit, Lesen, Schreiben, Rechnen, Häuser bauen, Kriege planen und führen, Gesellschaften etablieren, das Durchdenken komplexester Strukturen, das Entwickeln von High-Tech – das alles sind unglaubliche Leistungen, zu der nach aktuellen Wissensstand nur unsere Spezies in der Lage ist. Aber es gibt eben nicht nur unser Gehirn mit seiner Vernunft, seiner Logik, seiner Ratio. Die andere Seite der Medaille ist unser vegetatives Nervensystem – unsere Genetik, unsere Hormone. Im Gegensatz zu unserem hochentwickelten Gehirn, schwimmen wir hier noch alle in der Urzeit-Suppe. Geht es nach bestimmten Wissenschaftlern, dann ist genau das – diese Widersprüchlichkeit der beiden Systeme – der Grund für die meisten unserer aktuellen Probleme. Ihre These lautet: Unsere Entscheidungen und unser Verhalten werden nicht von unserem rationellen Gehirn getroffen. Ausschlaggebend für unser Verhalten ist unser vegetatives Nervensystem. Wir denken mit dem Kopf und entscheiden aus dem Bauch.
Ist da jemand?
Einer dieser Wissenschaftler ist der britische Psychologe und Verhaltensforscher Nick Chater von der renommierten Warwick Business School. Chater ist der Überzeugung, dass wir so etwas wie einen „freien Willen“ oder ein „Ich“ überhaupt nicht besitzen. Entscheidungen werden nicht durch das Abwägen von Für und Wider oder durch langes Überlegen gefällt, sondern allein durch chemische Reaktionen in unseren Körpern. Den Urmenschen in uns. Das Hirn sei nicht mehr als eine Art „Pressesprecher“, dessen Aufgabe vor allem darin bestünde, unsere Entscheidungen vor uns selbst und vor anderen zu rechtfertigen. "Wir können uns nicht finden. Weil in uns kein Selbst ist, das wir finden könnten." Klingt erst mal komplett „gaga“ und ein Stück weit gruselig. Wir leben in unserer eigenen fiktiven Welt in der wir uns den freien Willen und die autarken Entscheidungen, auf die wir uns immer wieder berufen, nur einbilden. Matrix in a nutshell. Aber wenn man diese natürliche Abwehrhaltung mal beiseiteschiebt, erkennt man sehr schnell, dass diese Theorie zumindest einiges erklären würde. Denn wir alle wissen: Jeden Tag treffen Menschen überall auf der Welt millionenfach Entscheidungen, die nicht nur unlogisch sind. Es sind Entscheidungen wider besseren Wissens. Wenn man sie fragt, warum sie das tun, bekommt man als Antwort entweder ein Schulterzucken oder eine manchmal recht abenteuerliche – bleiben wir im Bild – „Pressemitteilung“ als Antwort, die das Wort „Emotionen“ enthält.
Alles aus dem Bauch
Im Jahr 2020 führte das Dating-Portal „Elite Partner“ eine anonyme Umfrage unter seinen Mitgliedern durch. Wer hat seinen Partner schon mindestens einmal betrogen? Das Ergebnis: Knapp ein Drittel der User zwischen 30 und 59 Jahren waren ihrem Partner teilweise mehrfach untreu. Unzählige Menschen, die ihre teilweise jahrelange Beziehung zugunsten eines kurzen Seitensprungs aufs Spiel setzen? Vielleicht sogar eine Scheidung riskieren? Wie vernünftig, wie rational, ist so ein heimlicher Seitensprung? Noch unlogischer wird es, wenn man die Studie der University of Maryland, der Indiana University und der Stony Brook University aus dem Jahr 2022 liest. Die drei Hauptgründe für Fremdgehen lauten: „Rache am Partner“. „Das Gefühl, nicht geliebt zu werden“. „Das Bestätigen des eigenen Egos“. Für Wesen, die rationale Entscheidungen treffen, eine ziemlich schwache Basis. Für hormongesteuerte hingegen ein absolut logisches Verhalten. Wenn ich das, was ich will, nicht hier bekomme, dann eben woanders.
Nicht so schlau
Oder nehmen wir das Thema Gesundheit. Uns allen dürfte daran gelegen sein, möglichst lange zu leben und auch im Alter noch fit zu sein. Das wäre vernünftig und durchdacht. Das zu realisieren ist auch keine Raketenwissenschaft: Gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung. Fertig. Und dennoch – im Jahr 2016 untersuchte das US-Gesundheitsmagazin „The Lancet“ die Entwicklung der Körperfettzunahme und kam zu dem Ergebnis: Innerhalb von 40 Jahren hat die Menschheit im Schnitt und weltweit pro Jahrzehnt 1,5 Kilo zugelegt. Die Zahl der Adipositas-Patienten hat sich in dieser Zeit versechsfacht. Und obwohl inzwischen auch dem letzten klar sein sollte, dass Alkohol und Autofahren eine ziemlich miese Kombination sind, finden sich jedes Jahr in Deutschland immer noch genug Menschen, die es für eine brillante Idee halten, sich besoffen ans Steuer zu setzen. 5% der Autounfälle in Deutschland gehen jährlich auf die Kappe dieser Menschen und 46% dieser Unfälle passieren am Wochenende. Damit geht jeder 16te getötete auf Deutschlands Straßen auf Kosten einer Alkoholfahrt.
Was Hänschen nicht lernt...
Ist es vernünftig, auf „die Ausländer“ zu schimpfen und zu behaupten, sie würden uns die Arbeit und die Frauen wegnehmen, obwohl das statistisch zigmal widerlegt wurde? Nein. Für unsere Vorfahren aber war jeder Fremde in der Gruppe ein Konkurrent um Nahrung und Sexualpartner. Ist es vernünftig weiterhin so zu leben, als würde es den Klimawandel nicht geben und wir hätten eine zweite Erde in der Tasche? Nein. Für unsere Vorfahren aber bedeutete jede Art der Veränderung der eignen Verhaltensweisen eine potenzielle Lebensgefahr. Oder gehen wir es anders an: Warum haben rund 25% der Deutschen eine Arachno- oder eine Ophidiophobie, obwohl es hierzulande seit Jahrhunderten keine tödlichen Spinnen oder Schlangen gibt. Niemand aber scheint eine Phobie davor zu haben, vom Auto getötet (rd. 2.800 Fälle pro Jahr) oder mit einem Messer angegriffen zu werden (rd. 10.000 Fälle pro Jahr). Dafür gibt es aber noch nicht einmal Fachbegriffe. Die Gründe für all diese Verhaltensweisen sind dort zu suchen, wo auch entschieden wird, dass unsere Pupillen sich bei Angst vergrößern, weil wir dann die drohende Gefahr besser einschätzen zu können und dass wir versuchen, wenn uns kalt ist, unser Fell aufzustellen, obwohl wir es schon vor über 1 Mio. Jahren verloren haben.
Keine Pointe
Eine Theorie die ebenso faszinierend wie deprimierend ist. Bedeutet sie doch, dass Dr. Oliviera recht zu haben scheint. Wir sind eventuell wirklich nur ein unbedeutender Seitenarm der Evolution, bei dem schlicht etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Wir Erschaffen mit unseren hochentwickelten Gehirnen eine Welt, die wir dann aufgrund unseres Verhaltens wieder zerstören und uns damit selbst an den Abgrund treiben. Wir wissen, dass wir diese Spirale aufhalten müssen und scheitern, weil der Urmensch in uns keine Logik und keine Nachhaltigkeit kennt. Wir wollen zwar, aber wir können nicht. So wie der Fußballspieler, der jedes Mal nach jeder gelben Karte wild gestikulierend zum Schiedsrichter rennt, obwohl er es besser weiß.
03.03.2024
Und da lief sie wieder – die Echauffierungs-Maschinerie. Volle Kraft voraus. Und – wie immer, wenn die öffentliche Empörung groß ist – tritt das, was sie ausgelöst hat, mehr und mehr in den Hintergrund. Denn ein verbales Abrüsten, ein nüchternes Betrachten der Ereignisse auf Faktenbasis steht Skandal-Einschaltquoten und Klickraten diametral gegenüber. Beginnen könnte man zum Beispiel mit der Frage, was denn da genau auf der Abschlussveranstaltung der Berlinale passiert ist. Wer hat vor welchem Hintergrund und mit welcher Intention was gesagt? Eine diesbezügliche Recherche ist ein wenig schwierig, da man – das mag überraschend finden, wer möchte – auf den gängigen Plattformen kein einziges, unbearbeitetes Video der beiden kritisierten Dankesreden findet. Zumindest nicht der Rede der US-amerikanischen Filmcrew, der danach Antisemitismus und Judenhass vorgeworfen wurde. Der RBB hat ein Video online gestellt, das wenigstens einen Teil des Auftritts zeigt und in dem ganz leise zu hören ist, was der Regisseur gesagt hat. Wesentlich einfacher ist die Dankesrede von Basel Adra und Yuval Abraham zu finden. Die beiden Regisseure haben 2024 einen Preis für ihren Film „No Other Land“ bekommen. Das Besondere daran: Adra, der Palästinenser, und Abraham, der Israeli, nutzten gemeinsam die große Öffentlichkeit für einen Aufruf zum Waffenstillstand und klarer Kritik an dem israelischen Vorgehen in Gaza – nicht nur im Rahmen des Krieges, sondern prinzipiell.
Rio rotiert im Grab
Aber auf solche Feinheiten wie einen israelischen Filmemacher, der sein eigenes Land kritisiert, kann die Empörungsmaschinerie keine Rücksicht nehmen. Ganz vorne mit dabei: Claudia Roth als verantwortliche Kulturstaatsministerin. Diese war scheinbar so schockiert und angeekelt von dem, was die Preisträger sich da erlaubt hatten, das sie etwas tat, was für eine ehemalige Tourmanagerin der Band „Ton Steine Scherben“ zumindest recht ungewöhnlich ist und wofür sie von „Steine“-Frontmann Rio Reiser bestimmt einen ordentlichen Einlauf kassiert hätte: Roth wirft mit ihrer pauschalen Kritik an den Äußerungen an diesem Abend nicht nur einem Israeli Antisemitismus vor, sie denkt auch laut darüber nach, wie man solche Auftritte in Zukunft vermeiden könne. Da Claudia Roth eine intelligente Frau ist, muss ihr klar sein, dass man so etwas nicht verhindern kann. Außer natürlich, man kontrolliert vorher das, was gesagt werden soll, bzw. gibt vor, was gesagt werden darf. Und das wäre dann Zensur.
Ist das schon Hass?
Die Grundproblematik, die das Thema Antisemitismus zu einem solchen Minenfeld macht, ist aber gar nicht die Medienmeute, die sofort mit Standardfloskeln wie „Hass“ um sich wirft oder eine überspannte Politikerin, bei der zumindest die Frage gestattet sein muss, ob ihre lautes Getöse eventuell damit zusammenhängt, dass sie vergessen machen möchte, wie sie die betreffenden Reden während der Veranstaltung noch beklatscht hatte (ich verlinke hier nichts, weil das einzige Bild dazu von der BILD-Zeitung ist und ich die nicht verlinken will). Die Grundproblematik ist, dass man sich als normal denkender Mensch ohne pauschale Ressentiments gegen bestimmte Nationalitäten oder Glaubensrichtungen allen Ernstes fragt, wo genau der „Hass“ ist, wenn jemand mit ruhiger Stimme einen Waffenstillstand fordert, weil Zivilisten sterben? Diese Frage und die mit ihr einhergehende Unsicherheit, wo denn nun eigentlich genau Israel-Kritik endet und Anti-Semitismus anfängt, kann nur entstehen, weil die Definition von Antisemitismus in Deutschland dermaßen weit gefasst ist, dass sie eigentlich genau dem widerspricht, was in solchen Situationen gefordert ist: Ein freies, dialektisches Denken, Sprechen und Handeln. Keine Pauschalisierungen, sondern ein klares Abgrenzen einzelner Themen voneinander.
Die Arbeitsdefinition
Zu finden ist sie auf den Seiten des Antisemitismus-Beauftragten der Bundesregierung. Und jetzt wird es ein bisschen „tricky“. Denn bei dieser Definition handelt es sich mitnichten um ein Gesetz. Es ist eine „Arbeitsdefinition“, die 2017 von der damaligen Bundesregierung durch einen Kabinettbeschluss verabschiedet und in Umlauf gebracht wurde. Weder der Bundestag, noch der Bundesrat haben sie als Gesetz ratifiziert. Der Grund dafür: Man befürchtete, dass das Gesetz nicht durch den Bundestag gehen würde, da es auch in den Reihen der Regierungsparteien Kritik daran gab, diese Definition sei zu weit gefasst und zu schwammig. Und ein Antisemitismus-Gesetz, dass den Deutschen Bundestag nicht passiert – den Skandal wollten sich Merkel und Kollegen ersparen. Und so lautet die aktuelle „Arbeitsdefinition“: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein."
Alle in einem Sack
Und genau das ist der Grund, warum es jederzeit möglich ist, die Kritik am Vorgehen des israelischen Militärs im Gaza-Streifen – und sei sie noch so leise, vorsichtig und zurückhaltend vorgebracht – als Antisemitismus einzustufen und warum man einen US-Filmemacher mit Palästinensertuch, der auf der Bühne der Berlinale steht und den Satz sagt: „…und natürlich stehen wir für einen Waffenstillstand und gegen den Genozid.“ als „Judenhasser“ einordnen darf. Und dass es als Grundlage dieser Einordnung genügt, anzumerken, dass der Überfall der Hamas am 07. Oktober nicht erwähnt wurde. Eine so wachsweiche Formulierung wie diese „Arbeitsdefinition“ hat unweigerlich zwei Folgen: Man stellt diejenigen, die das Vorgehen Israels aus humanitären Gründen kritisieren auf eine Stufe mit Rechtsradikalen, die den Holocaust leugnen und verliert – wieder mal – einen guten Teil der Bevölkerung, die sich einerseits klar gegen Antisemitismus positionieren, aber dennoch das Vorgehen Israels nicht gutheißt. Frei nach dem Motto: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Und man spielt denen in die Hände, die nicht aufhören wollen, von der jüdischen Weltverschwörung zu schwafeln, die auch unsere Regierung fest in der Hand habe.
Alle in einem Sack
Alternativweltgeschichte, auch Parahistorie genannt, beschäftigt sich mit Denk-Szenarien, die alle auf der Frage „Was wäre, wenn…?“ basieren. Wie hätte sich unsere Gesellschaft entwickelt, wenn die Römer die Schlacht im Teutoburger Wald gewonnen hätten? Oder was wäre passiert, wenn Adolf Hitler an der Wiener Kunstakademie angenommen worden wäre? Darüber gibt es hochspannende Abhandlungen, bekannte Hollywoodfilme wie "Vaterland" nach dem Roman von Robert Harris und – kleiner Lesetipp – einen grandiosen, wenn auch etwas abgefahrenen, Roman des englischen Schauspielers und Schriftstellers Stephen Fry mit dem Titel „Geschichte machen“. Parahistorie zeigt sehr schnell und sehr gut, wie wichtig es ist, Dinge nicht eindimensional zu betrachten und zu pauschalisieren. Alles hat Auswirkungen auf alles. Nehmen wir zum Beispiel an, der englische König Heinrich VIII. wäre sein ganzes Leben lang ein treuer Ehemann gewesen. Klingt erst mal unspektakulär. Aber wäre es so gewesen, hätte er seine zweite Frau Anne Boleyn nie geheiratet und deren Tochter, Königin Elizabeth I., wäre nie geboren worden. Und damit die Königin, unter deren Regierung England zum Weltreich wurde. Kurz: Wäre ein englischer König im 16. Jahrhundert seiner Frau treu gewesen, hätte das deutsche Jugendwort des Jahres 2021 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht „cringe“ gelautet, weil Englisch wohl nie zur Weltsprache aufgestiegen wäre. Und nun - unter dem Eindruck des Berlinale-Skandals - ist eine andere parahistorische Frage zwar provokativ, aber doch hochspannend. Vor allem zeigt sie, wie wichtig es wäre, etwas Stringenteres und Klareres zu haben als diese "Arbeitsdefinition":
„Was wäre, wenn Wladimir Putin und die russische Bevölkerung jüdischen Glaubens wären…?
Einfach mal sacken lassen...
21.01.2024
Auch wenn es erst einmal seltsam klingt, aber: Die Recherchen von Correctiv.org und die Veröffentlichungen rund um das geheime Treffen dieser kruden Mischung aus rechtsextremen Aktivisten, AfD-Politikern, Mitgliedern der Werteunion und sonstigem Irrlichtern, die sich einem faschistischen Gedankengut zumindest mal nicht verwehren, hat einiges leichter gemacht. Zumindest was den täglichen Umgang mit AfD-Sympathisanten -Wählern oder – noch schlimmer – Mitgliedern dieser Partei angeht. Denn solchen Menschen muss jetzt klar sein: Seit der Veröffentlichung gibt es keine Ausreden mehr. Sie können nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, die faschistischen Züge dieser Partei unterschätzt zu haben. Die Zeit des „Ja, aber…“ ist vorbei. Auch die Ausrede, den „Altparteien“ einen „Denkzettel“ verpassen zu wollen, zählt nicht mehr. Jeder, der jetzt noch mit dem Gedanken spielt, in eine Wahlkabine zu spazieren und sein Kreuz rechts außen zu setzen, ist kein Mitläufer oder Unterstützer mehr. Er ist ein Mittäter.
Distanzieren oder Täter sein
Seit dem 10. Januar 2024 geht jede „verbale Entgleisung“ auf Veranstaltungen, jede fremdenfeindliche Beleidigung, jeder tätliche Angriff von politischen Rechten auf Migranten, Homosexuelle, Linke oder andere Menschen, deren Lebensentwurf in irgendeiner Weise nicht in die feuchten Lebensborn-Träume dieses Packs passt, auf die Rechnung eines jeden, der sich nicht mit glasklarer Kante von der AfD distanziert. Jeder Einzelne macht sich an jeder Tat mitschuldig. Denn man wählt keine Partei, die sich ernsthaft mit den menschenverachtenden Ideen eines österreichischen Extremisten – und Geschichte wiederholt sich doch – beschäftigt. Man wählt keine Partei, die dem Verbrechen der „Deportation“ mit „Remigration“ einen neuen Namen gibt und darüber nachdenkt, wie man nicht nur Migranten ohne deutsche Staatsangehörigkeit möglichst schnell aus dem Land bringt, sondern auch diejenigen, die zwar einen deutschen Pass haben, aber deren Denke nicht in das eigene völkische Bild passt. Man wählt keine Faschisten.
Blaupause Wannseekonferenz
Man wählt keine Partei, die solche Pläne im Hotel „Landhaus Adlon“ bespricht, das Luftlinie gerade einmal 8 Kilometer von der Villa entfernt ist, in die Reinhard Heydrich am 20. Januar 1942 zur Wannseekonferenz eingeladen hatte. Also der Ort, an dem die Nazis die „Endlösung“ der Judenfrage beschlossen. Man wählt keine Partei, die es für eine gute Idee hält, alle aus Deutschland „remigrierten“ Menschen in einen „Musterstaat“ in Nordafrika „zu bewegen“. Weil das nicht nur vollkommen irre ist, sondern vor allem eine widerliche Kopie. 1940 entwarfen die Nazis den „Madagaskarplan“. 4 Millionen europäischen Juden sollten per Schiff auf die afrikanische Insel umgesiedelt werden. Nur stellte sich heraus, dass das dann doch zu teuer war, worauf man sich zwei Jahre später bei der Wannseekonferenz für die „günstigere Variante“ entschied. Wer solche Gedanken unterstützt, mitdenkt, sie billigend in Kauf nimmt oder auch nur darüber hinwegsieht, hat jedes Recht verwirkt, seinen Mund innerhalb eines demokratischen Diskurses zu öffnen. Der ist keinen Deut besser als dieses braune Pack. Und dessen Meinung ist obsolet.
Faschisten hören niemals auf, Faschisten zu sein…
Spätestens mit dieser Veröffentlichung muss dem letzten Clown, der irgendwo noch einen winzigen Rest Anstand in sich trägt, klar sein: Das ist kein Spiel. Die AfD ist keine Partei, mit der man die „Großen“ ärgert. Eine, die dafür sorgen wird, dass dieses Land wieder funktioniert. Diese Partei will an die Macht, um aus Deutschland einen Staat zu machen, in dem es möglich ist, jeden Andersdenkenden – ob er Deutscher ist oder nicht – des Landes zu verweisen. Dafür muss dieser weder links sein, noch der Antifa angehören. Man muss schlicht human und liberal sein. Das sind keine Hirngespinste, das ist keine Panikmache. Spätestens seit dem 10. Januar muss jedem klar sein: Das ist die Realität. Sollte die AfD mit der Schützenhilfe dieser „Denkzettel-Spinner“ an die Macht kommen, wird der Wolf sein Schafspelz fallen lassen. Und dann wird ihr Spindoktor, der Faschist Björn Höcke, das Ruder, das er derzeit nur aus dem Hintergrund durch willige Marionetten wie Tino Chrupalla in der Hand hält, auch offiziell übernehmen. Höcke, der erst in diesem Sommer in einem Interview mit dem MDR gefordert hat, „Belastungsfaktoren vom deutschen Bildungssystem wegzunehmen“. Wie etwa Kinder mit Behinderungen. Inklusion sei eines der „Ideologieprojekte“, von dem man das Bildungssystem „befreien“ müsse. Solche Projekte würden „unsere Schüler nicht weiterbringen“ und „nicht leistungsfähiger machen“. Sie führten nicht dazu, „dass wir aus unseren Kindern und Jugendlichen die Fachkräfte der Zukunft machen“. Überrascht? Warum? So denken Faschisten eben über „unwertes Leben“, das den Volkskörper vergiftet.
…man diskutiert mit ihnen nicht, hat die Geschichte gezeigt.
Es gibt seit dem 10. Januar 2024 kein Grau mehr. Keine Schattierungen. Es ist seit diesem Tag vollkommen unerheblich, ob das Wahlprogramm der AfD irgendetwas Sinnvolles beinhaltet oder nicht. Man muss sich nicht mehr damit beschäftigen. Keine Diskussionen führen. Denn es gibt bezüglich dieser Partei nur noch Schwarz oder Weiß, ja oder nein. Und es ist Zeit, dass die demokratischen Parteien von ihrem hohen Ross steigen und erkennen, dass an einem Verbotsverfahren gegen die AfD nichts vorbeiführt. „Inhaltlich schlagen“ oder „mit Argumenten überzeugen“ funktioniert nicht mehr. Der Zug ist abgefahren. Menschen, die diese Partei wählen, wollen nicht diskutieren und schon mal gar nicht auf dem Boden des Grundgesetzes eines demokratischen Landes. Dass die Gefahr besteht, ein Verbotsverfahren könnte so wirken, als wolle man sich nur die Konkurrenz vom Leib schaffen – so what? Und auch, ob diese Hirntoten sich dann wieder unter einer anderen Flagge zusammenfinden, ist vollkommen egal. Das rechte Gesocks will Machiavelli spielen? Dann spielen wir doch Machiavelli. Der Zweck heiligt die Mittel. In diesem Fall heißt das Mittel Artikel 21 des Grundgesetzes. Ein Artikel, der von Menschen dort hineingeschrieben wurde, die sehr gut wussten, wohin es führen kann, wenn man glaubt, Nazis und ihre Anhängern mit Argumenten beikommen zu können.
Push the button?
Und wer immer noch glaubt, das seien alles nur politische Spielchen und in der Realität sähe das alles ganz anders aus und die Gesellschaft würde Pläne wie die der „Remigration“ nie stützen, dem sei der Film „Who ist America?“ des britischen Komikers Sasha Baron Cohen empfohlen. Cohen drehte diesen Dokumentarfilm 2018 ganz im Stil seines bekannteren Films „Borat“. Er schlüpfte in verschiedene Rollen, um die Gesellschaft bloßzustellen. Unter anderem gab er sich gegenüber einem militanten Trump-Anhänger der „Alt-Right“ als israelischer Anti-Terror-Experte aus und konfrontierte ihn mit völlig abstrusen Fake-News. Er behauptete, der Geheimdienst habe gesicherte Informationen darüber, dass die Antifa während einer Demonstration der Rechten in San Francisco versuchen würde, Hormone in Babywindeln zu spritzen, um die Kinder später transsexuell werden zu lassen. Cohen wollte sehen, wie weit dieser – ansonsten gebildete und freundliche – Mann gehen würde und schlug ihm vor, unbemerkt kleine Sprengladungen an drei angeblichen Antifa-Mitgliedern - Cohens Mitarbeiter - zu befestigen. Natürlich waren die Sprengladungen Attrappen. Das wusste aber nur Cohen. Er wollte wissen, wie weit der Mann wirklich gehen würde. Er gab ihm also einen Auslöser in die Hand und sagte ihm, damit könne er die drei Sprengladungen explodieren lassen. Und der Mann drückte ohne Zögern den Knopf.
"Diejenigen, die Dich dazu bringen können, Absurditäten zu glauben, können Dich dazu bringen, Gräueltaten zu begehen."
Voltaire
© Christian Beyer, 2022. Alle Rechte vorbehalten.
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