Brett vorm Kopf

Die Zukunft - ganz nah

Nichtstun schützt vor Strafe nicht

19.04.2024 

In „Minority Report“ spielt Tom Cruise den Polizisten John Anderton im Washington D.C. des Jahres 2054. Er leitet die Abteilung „Precrime“, deren Aufgabe es ist, Verbrechen zu vereiteln, bevor sie geschehen. Hierfür greift er auf die bruchstückhaften Vorhersagen der drei seherisch begabten Klone – genannt „Precogs“ – Agatha, Arthur und Dashiell zu, die er dann zusammen mit seinem Team analysiert, um Täter und Tatort zu ermitteln und so das Verbrechen zu verhindern, bevor es geschieht. Und obwohl die Taten noch gar nicht begangen wurden, werden die „Täter“ verhaftet, vor Gericht gestellt und verurteilt. Eine Dystopie wie aus dem Lehrbuch. Kein Wunder, wenn man weiß, dass die Filmvorlage eine Kurzgeschichte aus der Feder von Philip K. Dick ist, auf dessen Ideen auch Filme und Serien wie Blade Runner, Matrix oder The Man in the High Castle basieren. Der 1982 verstorbene Dick hatte prinzipiell eine ziemlich schlechte Meinung von der Spezies Mensch und seiner emotionalen Entwicklungsfähigkeit. 

Reden hilft - nicht immer
Uns allen ist klar, dass es so etwas bereits gibt. Keine hellsichtigen Klone. Aber dass Menschen nur aufgrund bloßer Vermutungen von der Polizei festgehalten, in ihrer Bewegungs- und Meinungsfreiheit eingeschränkt werden, ist in irgendwelchen Autokratien ja nicht unüblich. In Demokratien wie unserer gibt es sowas nicht…naja…das stimmt nicht so ganz.
Denn wie es aussieht, wenn eine Demokratie unglaublich nah am Begriff „Willkür“ entlangschlittert, konnte man sich kürzlich in Berlin ansehen. Dort sollte vom 12. – 14.04. eigentlich der „Palästina-Kongress“ stattfinden. Eine Konferenz, die vorwiegend von linken Organisationen aus ganz Europa unterstützt und gemeinsam vom Vereinigten Palästinensischen Nationalkomitee und der Jüdischen Stimme organisiert wurde. Ihr Ziel: Eine möglichst breite gesellschaftliche und politische Basis für einen sofortigen beidseitigen Waffenstillstand in Gaza schaffen. Und weil diese Organisationen kein Blatt vor den Mund nehmen und sich Begriffe wie „Völkermord“ nicht verbieten lassen, hatte der Kongress mit dem Titel „Wir klagen an“ bereits im Vorfeld die Aufmerksamkeit der Sicherheitsbehörden auf sich gezogen. Aus diesem Grund lud die Polizei die Veranstalter vorab zu einem Gespräch ein, das von diesen auch wahrgenommen wurde. Die Sicherheitsbehörden erhielten eine Liste der Redner und man einigte sich unter anderem darauf, die Teilnehmerzahl von geplanten 650 auf 250 zu reduzieren, um – laut Veranstalter – nicht Gefahr zu laufen, mehr Polizisten als nötig vor Ort zu haben. Ein nicht ganz unwichtiges Detail dabei: Laut dem deutschen Versammlungsrecht muss eine politische Veranstaltung in geschlossenen Räumen den Sicherheitsbehörden nicht im Vorfeld angezeigt oder mit ihnen abgestimmt werden. Das alles waren rein deeskalierende Maßnahmen der Veranstalter, um eben keine Probleme zu bekommen.

Vom Netz genommen
Doch kurz nach der Eröffnung passierte genau das. Die Konferenz wurde von exakt der Berliner Polizei gestürmt, mit der die Veranstalter eine Woche zuvor noch an einem Tisch zum Austausch gesessen hatten. Die Beamten drangen in den Veranstaltungssaal ein, verschafften sich mit Gewalt Zutritt zum Technikraum – obwohl ihnen vom Veranstalter der Schlüssel angeboten wurde – und stellten den Strom ab. Grund für diese Aktion war ein Live-Video-Stream des palästinensischen Aktivisten und Historikers Salman Abu Sitta, der gerade seine Begrüßungsrede hielt. Abu Sitta ist ein durchaus streitbarer Mann, der der israelischen Regierung schon lange ein Dorn im Auge ist. In besagter Rede etwa verglich er das derzeitige Vorgehen Israels in Gaza mit Neros Niederbrennen von Rom, dem Völkermord in Ruanda und den Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs. So lange eben, bis die Berliner Polizei ihn vom Netz nahm. Die Begründung: Für Abu Sitta bestünde in Deutschland ein Betätigungsverbot. Eine Behauptung, die bis heute weder von der Polizei selbst noch vom deutschen Innenministerium in irgendeiner Weise belegt wurde und die weder den Veranstaltern noch dem Beschuldigten selbst bekannt war. Kleiner Einschub: Es ist alles andere rechtssicher, dass ein Betätigungsverbot in Deutschland auch für Menschen gilt, die sich nicht auf deutschem Boden befinden und – wie hier – per Video zugeschaltet werden. Alles egal. Trotz Widerspruchs mehrerer Juristen direkt vor Ort, wurde das Video beendet. „Gefahr im Verzug“ geht immer. Aber die Polizei unterbrach nicht nur das Video. Sie beendete den kompletten Kongress, der gerade einmal zwei Stunden alt war. Alle Anwesenden mussten ihre Personalien abgeben und wurden des Platzes verwiesen.

Grundlose Verweigerung
Wer nun glaubt, dieser Einsatz der Berliner Polizei stünde rechtlich zumindest mal nicht auf den sichersten Füßen, der konnte sich fast zeitgleich am Berliner Flughafen davon überzeugen, dass es immer noch eine Nummer dreister geht. Denn dort verhinderte die Bundespolizei die Einreise zweier anderer Männer. Zum einen war dies der Rektor der University of Glasgow und Onkel von Salman Abu Sitta – Ghassan Abu-Sittah. Dieser ist ebenso wie sein Neffe gebürtiger Palästinenser und Aktivist. Über seinen „X“–Kanal berichtet er täglich über die Gräuel in Gaza. Hier findet man dann auch Äußerungen, die zwar eventuell menschlich und in dieser Situation verständlich sein mögen, aber als Aussage ein absolutes „No Go“ sind. „Wir wissen, dass Israel uns sowieso töten wird. Wir verhungern, wir werden belagert, wir werden enteignet, wir werden vertrieben. […] Israel will uns auf den Knien haben…also warum nicht zurückschlagen und wenigstens in Würde sterben?“ Ein bestehendes Betätigungsverbot gegen diesen Mann durchzusetzen und ihn nicht nach Deutschland einreisen lassen, wäre nachvollziehbar gewesen. Dabei gibt es nur ein Problem: Es bestand im Falle von Ghassan Abu-Sittah kein Betätigungsverbot. Laut seiner Angaben wollte er in seiner Rede über seine aktuelle Tätigkeit in Gaza berichten. Dort ist er nämlich seit Monaten als plastischer Chirurg für „Ärzte ohne Grenzen“ im Einsatz. 

Ein alter Bekannter
Beim zweiten Herrn, der an diesem Tag nicht bundesrepublikanischen Boden berühren durfte, folgte dann die Kirsche auf der Sahnehaube dieser Willkür-Komödie. Dabei handelte es sich um einen Mann, den wir alle noch sehr gut aus der Griechenlandkrise kennen: Yanis Varoufakis. Der ehemalige griechische Finanzminister sitzt inzwischen mit seiner eigenen Partei DiEM25 im griechischen Parlament und kandidiert für die Europawahlen. Varoufakis, bekanntermaßen ein Freund der eher undiplomatischen Äußerung, war ebenfalls als Redner angekündigt worden. Er ist kein Moslem, kein Araber, kein Palästinenser. Gegen ihn lag nichts vor. Kein Haftbefehl, kein Betätigungsverbot. Und dennoch wurde er schlicht nicht ins Land gelassen. Die Begründung dafür muss man sich wirklich in aller Ruhe zu Gemüte führen. Der offizielle Grund für die Einreiseverweigerung war wegen Varoufakis‘ – und das ist ein Originalzitat der Berliner Polizei – „möglichen Teilnahme als Redner beim Palästina-Kongress 2024 in Berlin“

Der Professor mit dem Kronleuchter in der Küche...?
Die Romane von Agatha Christie sind oft voller handelnder Personen, die alle ihre eigenen Geschichten haben. Deshalb hat sich die Krimi-Königin den Kniff mit den typischen „Christie-Showdown“ ausgedacht. Am Ende jedes Romans holt der Detektiv noch einmal alle Beteiligten in einen Raum und zieht seine Schlussfolgerungen. Und weil auch hier das Wesentliche durch all die Namen und handelnden Personen unterzugehen droht, hier nochmal die Essenz – sozusagen in bester Poirot-Manier:

Zwei durchaus streitbare Organisationen planen einen Kongress auf dem Boden eines – nach eigenem Bekunden – freiheitlich-demokratischen Staates, bei dem durchaus streitbare Redner ans Pult treten oder per Video zugeschaltet werden sollten. Die Polizei erfährt, laut eigener Aussage, aus den Medien davon und bittet zum Vorab-Gespräch. Die Organisatoren willigen ein, obwohl sie das rein rechtlich nicht müssten. Unter anderem reduzieren sie die Teilnehmerzahl, um möglichst schon vorab zu deeskalieren. Außerdem erhält die Polizei vorab eine Liste der geplanten Redner, auf der sich auch die Namen Salman Abu Sitta, Ghassan Abu-Sittah und Yannis Varoufakis befinden. Davon, dass nach Auffassung der Behörden gegen mindestens einen der drei ein Betätigungsverbot vorliegt, setzt die Polizei die Organisatoren nicht in Kenntnis.
Und genau das ist dann der Grund, warum eine Woche später eine Hundertschaft die Konferenz sprengt und beendet. Wohlgemerkt – die Option, nur das Video abzustellen und die Konferenz, die gerade einmal zwei Stunden alt war, dann unter Auflagen fortsetzen zu lassen, hätte auch bestanden. Zeitgleich werden zwei andere Redner, gegen die nichts vorliegt, am Flughafen abgefangen und daran gehindert, deutschen Boden zu betreten. Und wer die Arbeitsweise der Polizei kennt, der weiß auch, dass solche Aktionen nicht aus der Hüfte geschossen werden, dafür gibt es Vorbereitungsphasen, Einsatzpläne, etc… Sprich: Sie werden von langer Hand geplant. Und das lässt eigentlich nur einen Schluss zu:

Der Palästina-Kongress in Berlin sollte, auf wessen Anweisung auch immer, von Anfang an verhindert werden. Da man ihn aber nicht „einfach so“ verbieten konnte, hat man den Organisatoren gegenüber wichtige Informationen zumindest zurückgehalten, um auf Basis dieser Informationen agieren zu können. Bis zum heutigen Tag lieferten weder Polizei noch das BMI, trotz Anfragen verschiedener Medien und der Veranstalter, Nachweise über Betätigungsverbote oder andere, solche Aktionen rechtfertigenden Gründe. Einzig die Innenministerin textete auf „X“: "Es ist richtig und notwendig, dass die Berliner Polizei hart durchgreift beim sogenannten Palästina-Kongress. Wir dulden keine islamistische Propaganda und keinen Hass gegen Jüdinnen und Juden". Sie schreibt das wohlgemerkt über eine Veranstaltung, die zu 50% von Jüdinnen und Juden organisiert wurde.

Was bleibt
Zum einen bleiben die Schwachsinns-Schlagzeilen der ewigen „Zündler“ wie der NZZ, die „vom grossen Treffen der Israel-Hasser in Berlin“ schwadronieren. Menschen wie Carsten Maschmeyer, der Duz-Freund von Gerhard Schröder, der mit seiner Abzockerbude AWD unzählige Menschen in den Ruin getrieben hat, schwingen sich zur moralischen Stimme dieses Landes auf und fordern, dass die Teilnehmer des Kongresses „zurück ins Heimatland“ geschickt werden. Und es bleibt dieses ungute Gefühl von politischen Akteuren, die ihre Aufgabe endgültig nicht mehr darin sehen, die demokratischen Rechte der Menschen im eigenen Land, wie Meinungs- und Versammlungsfreiheit, zu schützen, sondern viel eher danach gehen, welche Haltung und Handlung von ihnen – von welcher Seite auch immer – gewünscht und gefordert wird.

Die WELT – die intellektuelle Version des journalistischen Bodensatzes, der sich BILD-Zeitung nennt, hat sich natürlich auch nicht lumpen lassen. Sie identifiziert einen „Linksradikalen“ als den Haupttreiber der „Israel-Hasser“ und als "Gefahr für die freiheitliche Grundordnung dieses Landes". Und weil das Leben immer noch der beste Satiriker ist, gab genau diese WELT einen Tag vor diesem Artikel in ihrem Fernsehsender dem Faschisten Björn Höcke in einem „TV-Duell“ 73 Minuten Prime-Time-Sendezeit.

 

Egoismus ohne "Ich"?

Matrix in a nutshell

12.04.2024 

Irgendein Fußballspiel, irgendwo auf der Welt. Ein Spieler foult den anderen. Der Schiedsrichter pfeift, marschiert zielstrebig auf den „Täter“ zu und zückt die gelbe Karte. Das ist der Moment, in dem sich normalerweise eine wild gestikulierende Menge um den Unparteiischen schart, die auf ihn einredet. Die simple Frage an dieser Stelle wäre: Warum? Warum machen sie das? Warum rottet sich die Mannschaft zusammen und versucht den Schiri umzustimmen? Denn ihnen ist vollkommen klar, dass das nicht passieren wird. Es gibt keinen einzigen registrierten Fall in der langen Geschichte des Fußballs, in dem ein Schiedsrichter auf Drängen von Spielern der „Tätermannschaft“ eine Karte zurückgenommen hat. In letzter Zeit ist es zwar ein paar Mal vorgekommen, dass ein Schiri die Bestrafung geändert hat, aber nur, weil der VAR eingeschritten war und ihn gebeten hatte, sich die Szene noch einmal anzusehen. Allein auf Drängen der Spieler? Nein. Und dennoch. Sie tun es immer wieder. Wider besseren Wissens. Wie in einem Reflex. Als könnten sie nicht anders…

Alarmsignale
Der Roman „Der Schwarm“ von Frank Schätzing erhielt ein paar Monate nach seinem Erscheinen im Jahr 2004 einen nicht geplanten PR-Schub, über den niemand – noch nicht einmal der Autor – glücklich war, weil er sich im Schatten einer der größten Naturkatastrophen der Geschichte ereignete. Der Tsunami im Indischen Ozean am 26. Dezember 2004, der über 200.000 Menschen das Leben kostete und Millionen obdachlos machte, schrieb viele traurige, herzzerreißende Geschichten, aber eben auch positive. Eine davon ist die der deutschen Familie, die in Thailand ihren Weihnachtsurlaub verbrachte. Der 16jährige Sohn hatte den damals fast druckfrischen Schätzing-Roman dabei. In ihm beschreibt der Autor sehr genau wie ein Tsunami entsteht, wie er seine tödliche Wucht entwickelt, was ihn von „normalen Sturmfluten“ unterscheidet und mit welchen Vorzeichen er sich ankündigt. Als der Sprössling am zweiten Weihnachtsfeiertag am Stand lag, sah er exakt diese Vorzeichen, von denen er kurz zuvor noch gelesen hatte. Er rannte in den Urlaubsbungalow, packte seine Eltern, die bis heute nicht sagen können, warum sie ihm sofort geglaubt haben, und flüchtete mit ihnen auf eine Anhöhe. Nur wenige Minuten später kam die Welle. Die Familie überlebte.

Who's the bad guy?
„Der Schwarm“ ist ohne Frage einer der besten deutschen Belletristik-Romane aller Zeiten. Das liegt natürlich zum einen an der grandiosen Grundidee: Eine uralte Spezies, die die Ozeane schon Millionen Jahre bevölkerte, bevor der homo sapiens die Erde betrat, sagt den Menschen den Kampf an. Dabei gehen diese „Aliens“ strategisch klug und mit tödlichem Erfindungsreichtum vor. Sie warnen nicht, sie verhandeln nicht, sie geben keine Schonfrist. Für ihren Kampf nutzen sie das komplette Arsenal, das ihnen zu Verfügung steht: Tusnamis ausgelöst durch Milliarden von Tiefseewürmern, blinde Krabben, die das New Yorker Grundwasser mit einem tödlichen Virus kontaminieren, unzählige Muscheln, die sich binnen kürzester Zeit an die Rümpfe von Schiffen heften und diese zum kentern bringen, Wale, Haie und Delfine, die sich zusammentun, um scheinbar wahllos Schiffe anzugreifen. Der Grund für all das: Die Spezies Mensch hat die Erde lange genug zerstört. Dem soll nun ein Ende gesetzt werden. Und das ist der Twist, der den Roman so besonders macht. Während die Menschheit in Filmen wie „Independence Day“ von außen angegriffen wird, sich verteidigen muss und schließlich den bösen Aggressor besiegt, hat Schätzing die Rollen vertauscht. Der Leser erkennt nicht sofort, aber nach und nach: In dieser Geschichte ist der Mensch – sind wir – der böse Eindringling, gegen die man sich zur Wehr setzt.

Erfolgreich? Eher so mittel...
Endgültig klar wird das in einem Monolog, den Schätzing die Gen-Forscherin Sue Oliviera über die Evolution halten lässt: „Nehmen wir doch mal für einen Moment an, dass wir nicht die Krone der Schöpfung sind.“ Was, wenn unsere Spezies einfach nur ein kleiner, unbedeutender Seitenarm der Evolution ist, dessen Niedergang bereits jetzt beschlossene Sache ist? Eine missglückte Variante? Einer von Milliarden Versuchen, die sich seit der Entstehung der Erde entwickelt haben, wieder ausgestorben sind und die heute niemand mehr kennt? Sang- und klanglos untergegangen. Eine der erfolgreichsten Spezies der Erdgeschichte, die Dinosaurier, hat diesem Planeten rund 170 Millionen Jahre langen ihren Stempel aufgedrückt. Und das wäre auch wahrscheinlich noch lange so weitergegangen, wäre diese Herrschaft nicht durch äußere Einflüsse beendet worden. Der homo sapiens, die selbsternannte „Krone der Schöpfung“ hat mit ihren 300.000 Jahren gerade mal knapp 2% dieser Zeit auf dem Buckel. Innerhalb dieses Wimpernschlags der Erdgeschichte hat er es aber geschafft, sich verdammt nah an die Klippe zu manövrieren. Und er hat dafür weder einen Meteoritenhagel, noch monatelange Vulkanausbrüche oder jahrelange Dunkelheit auf der Erde gebraucht. Insofern können wir schon mal eines ganz objektiv feststellen: Besonders erfolgreich sind wir – was die langfristige Arterhaltung angeht – nicht gerade. Aber vielleicht ist das gar nicht unsere Schuld? Vielleicht können wir nicht anders? 

Wenn zwei sich streiten
Ohne Frage sind wir, was die Hirnleistung angeht, ganz oben in der Evolutions-Pyramide. Intellektuell die absoluten Top-Prädatoren. Die Ernährung und die Lebensweise unserer Vorfahren haben dafür gesorgt, dass sich unser Gehirn in Quantensprüngen weiterentwickelt hat. Sprachfähigkeit, Lesen, Schreiben, Rechnen, Häuser bauen, Kriege planen und führen, Gesellschaften etablieren, das Durchdenken komplexester Strukturen, das Entwickeln von High-Tech – das alles sind unglaubliche Leistungen, zu der nach aktuellen Wissensstand nur unsere Spezies in der Lage ist. Aber es gibt eben nicht nur unser Gehirn mit seiner Vernunft, seiner Logik, seiner Ratio. Die andere Seite der Medaille ist unser vegetatives Nervensystem – unsere Genetik, unsere Hormone. Im Gegensatz zu unserem hochentwickelten Gehirn, schwimmen wir hier noch alle in der Urzeit-Suppe. Geht es nach bestimmten Wissenschaftlern, dann ist genau das – diese Widersprüchlichkeit der beiden Systeme – der Grund für die meisten unserer aktuellen Probleme. Ihre These lautet: Unsere Entscheidungen und unser Verhalten werden nicht von unserem rationellen Gehirn getroffen. Ausschlaggebend für unser Verhalten ist unser vegetatives Nervensystem. Wir denken mit dem Kopf und entscheiden aus dem Bauch. 

Ist da jemand?
Einer dieser Wissenschaftler ist der britische Psychologe und Verhaltensforscher Nick Chater von der renommierten Warwick Business School. Chater ist der Überzeugung, dass wir so etwas wie einen „freien Willen“ oder ein „Ich“ überhaupt nicht besitzen. Entscheidungen werden nicht durch das Abwägen von Für und Wider oder durch langes Überlegen gefällt, sondern allein durch chemische Reaktionen in unseren Körpern. Den Urmenschen in uns. Das Hirn sei nicht mehr als eine Art „Pressesprecher“, dessen Aufgabe vor allem darin bestünde, unsere Entscheidungen vor uns selbst und vor anderen zu rechtfertigen. "Wir können uns nicht finden. Weil in uns kein Selbst ist, das wir finden könnten." Klingt erst mal komplett „gaga“ und ein Stück weit gruselig. Wir leben in unserer eigenen fiktiven Welt in der wir uns den freien Willen und die autarken Entscheidungen, auf die wir uns immer wieder berufen, nur einbilden. Matrix in a nutshell. Aber wenn man diese natürliche Abwehrhaltung mal beiseiteschiebt, erkennt man sehr schnell, dass diese Theorie zumindest einiges erklären würde. Denn wir alle wissen: Jeden Tag treffen Menschen überall auf der Welt millionenfach Entscheidungen, die nicht nur unlogisch sind. Es sind Entscheidungen wider besseren Wissens. Wenn man sie fragt, warum sie das tun, bekommt man als Antwort entweder ein Schulterzucken oder eine manchmal recht abenteuerliche – bleiben wir im Bild – „Pressemitteilung“ als Antwort, die das Wort „Emotionen“ enthält.

Alles aus dem Bauch
Im Jahr 2020 führte das Dating-Portal „Elite Partner“ eine anonyme Umfrage unter seinen Mitgliedern durch. Wer hat seinen Partner schon mindestens einmal betrogen? Das Ergebnis: Knapp ein Drittel der User zwischen 30 und 59 Jahren waren ihrem Partner teilweise mehrfach untreu. Unzählige Menschen, die ihre teilweise jahrelange Beziehung zugunsten eines kurzen Seitensprungs aufs Spiel setzen? Vielleicht sogar eine Scheidung riskieren? Wie vernünftig, wie rational, ist so ein heimlicher Seitensprung? Noch unlogischer wird es, wenn man die Studie der University of Maryland, der Indiana University und der Stony Brook University aus dem Jahr 2022 liest. Die drei Hauptgründe für Fremdgehen lauten: „Rache am Partner“. „Das Gefühl, nicht geliebt zu werden“. „Das Bestätigen des eigenen Egos“. Für Wesen, die rationale Entscheidungen treffen, eine ziemlich schwache Basis. Für hormongesteuerte hingegen ein absolut logisches Verhalten. Wenn ich das, was ich will, nicht hier bekomme, dann eben woanders.

Nicht so schlau
Oder nehmen wir das Thema Gesundheit. Uns allen dürfte daran gelegen sein, möglichst lange zu leben und auch im Alter noch fit zu sein. Das wäre vernünftig und durchdacht. Das zu realisieren ist auch keine Raketenwissenschaft: Gesunde Ernährung und ausreichend Bewegung. Fertig. Und dennoch – im Jahr 2016 untersuchte das US-Gesundheitsmagazin „The Lancet“ die Entwicklung der Körperfettzunahme und kam zu dem Ergebnis: Innerhalb von 40 Jahren hat die Menschheit im Schnitt und weltweit pro Jahrzehnt 1,5 Kilo zugelegt. Die Zahl der Adipositas-Patienten hat sich in dieser Zeit versechsfacht. Und obwohl inzwischen auch dem letzten klar sein sollte, dass Alkohol und Autofahren eine ziemlich miese Kombination sind, finden sich jedes Jahr in Deutschland immer noch genug Menschen, die es für eine brillante Idee halten, sich besoffen ans Steuer zu setzen. 5% der Autounfälle in Deutschland gehen jährlich auf die Kappe dieser Menschen und 46% dieser Unfälle passieren am Wochenende. Damit geht jeder 16te getötete auf Deutschlands Straßen auf Kosten einer Alkoholfahrt.

Was Hänschen nicht lernt...
Ist es vernünftig, auf „die Ausländer“ zu schimpfen und zu behaupten, sie würden uns die Arbeit und die Frauen wegnehmen, obwohl das statistisch zigmal widerlegt wurde? Nein. Für unsere Vorfahren aber war jeder Fremde in der Gruppe ein Konkurrent um Nahrung und Sexualpartner. Ist es vernünftig weiterhin so zu leben, als würde es den Klimawandel nicht geben und wir hätten eine zweite Erde in der Tasche? Nein. Für unsere Vorfahren aber bedeutete jede Art der Veränderung der eignen Verhaltensweisen eine potenzielle Lebensgefahr. Oder gehen wir es anders an: Warum haben rund 25% der Deutschen eine Arachno- oder eine Ophidiophobie, obwohl es hierzulande seit Jahrhunderten keine tödlichen Spinnen oder Schlangen gibt. Niemand aber scheint eine Phobie davor zu haben, vom Auto getötet (rd. 2.800 Fälle pro Jahr) oder mit einem Messer angegriffen zu werden (rd. 10.000 Fälle pro Jahr). Dafür gibt es aber noch nicht einmal Fachbegriffe. Die Gründe für all diese Verhaltensweisen sind dort zu suchen, wo auch entschieden wird, dass unsere Pupillen sich bei Angst vergrößern, weil wir dann die drohende Gefahr besser einschätzen zu können und dass wir versuchen, wenn uns kalt ist, unser Fell aufzustellen, obwohl wir es schon vor über 1 Mio. Jahren verloren haben. 

Keine Pointe
Eine Theorie die ebenso faszinierend wie deprimierend ist. Bedeutet sie doch, dass Dr. Oliviera recht zu haben scheint. Wir sind eventuell wirklich nur ein unbedeutender Seitenarm der Evolution, bei dem schlicht etwas aus dem Ruder gelaufen ist. Wir Erschaffen mit unseren hochentwickelten Gehirnen eine Welt, die wir dann aufgrund unseres Verhaltens wieder zerstören und uns damit selbst an den Abgrund treiben. Wir wissen, dass wir diese Spirale aufhalten müssen und scheitern, weil der Urmensch in uns keine Logik und keine Nachhaltigkeit kennt. Wir wollen zwar, aber wir können nicht. So wie der Fußballspieler, der jedes Mal nach jeder gelben Karte wild gestikulierend zum Schiedsrichter rennt, obwohl er es besser weiß. 

 

Wachsweich hilft nicht weiter

Wo ist die Grenze der Israel-Kritik?

03.03.2024 

Und da lief sie wieder – die Echauffierungs-Maschinerie. Volle Kraft voraus. Und – wie immer, wenn die öffentliche Empörung groß ist – tritt das, was sie ausgelöst hat, mehr und mehr in den Hintergrund. Denn ein verbales Abrüsten, ein nüchternes Betrachten der Ereignisse auf Faktenbasis steht Skandal-Einschaltquoten und Klickraten diametral gegenüber. Beginnen könnte man zum Beispiel mit der Frage, was denn da genau auf der Abschlussveranstaltung der Berlinale passiert ist. Wer hat vor welchem Hintergrund und mit welcher Intention was gesagt? Eine diesbezügliche Recherche ist ein wenig schwierig, da man – das mag überraschend finden, wer möchte – auf den gängigen Plattformen kein einziges, unbearbeitetes Video der beiden kritisierten Dankesreden findet. Zumindest nicht der Rede der US-amerikanischen Filmcrew, der danach Antisemitismus und Judenhass vorgeworfen wurde. Der RBB hat ein Video online gestellt, das wenigstens einen Teil des Auftritts zeigt und in dem ganz leise zu hören ist, was der Regisseur gesagt hat. Wesentlich einfacher ist die Dankesrede von Basel Adra und Yuval Abraham zu finden. Die beiden Regisseure haben 2024 einen Preis für ihren Film „No Other Land“ bekommen. Das Besondere daran: Adra, der Palästinenser, und Abraham, der Israeli, nutzten gemeinsam die große Öffentlichkeit für einen Aufruf zum Waffenstillstand und klarer Kritik an dem israelischen Vorgehen in Gaza – nicht nur im Rahmen des Krieges, sondern prinzipiell.

Rio rotiert im Grab
Aber auf solche Feinheiten wie einen israelischen Filmemacher, der sein eigenes Land kritisiert, kann die Empörungsmaschinerie keine Rücksicht nehmen. Ganz vorne mit dabei: Claudia Roth als verantwortliche Kulturstaatsministerin. Diese war scheinbar so schockiert und angeekelt von dem, was die Preisträger sich da erlaubt hatten, das sie etwas tat, was für eine ehemalige Tourmanagerin der Band „Ton Steine Scherben“ zumindest recht ungewöhnlich ist und wofür sie von „Steine“-Frontmann Rio Reiser bestimmt einen ordentlichen Einlauf kassiert hätte: Roth wirft mit ihrer pauschalen Kritik an den Äußerungen an diesem Abend nicht nur einem Israeli Antisemitismus vor, sie denkt auch laut darüber nach, wie man solche Auftritte in Zukunft vermeiden könne. Da Claudia Roth eine intelligente Frau ist, muss ihr klar sein, dass man so etwas nicht verhindern kann. Außer natürlich, man kontrolliert vorher das, was gesagt werden soll, bzw. gibt vor, was gesagt werden darf. Und das wäre dann Zensur.

Ist das schon Hass?
Die Grundproblematik, die das Thema Antisemitismus zu einem solchen Minenfeld macht, ist aber gar nicht die Medienmeute, die sofort mit Standardfloskeln wie „Hass“ um sich wirft oder eine überspannte Politikerin, bei der zumindest die Frage gestattet sein muss, ob ihre lautes Getöse eventuell damit zusammenhängt, dass sie vergessen machen möchte, wie sie die betreffenden Reden während der Veranstaltung noch beklatscht hatte (ich verlinke hier nichts, weil das einzige Bild dazu von der BILD-Zeitung ist und ich die nicht verlinken will). Die Grundproblematik ist, dass man sich als normal denkender Mensch ohne pauschale Ressentiments gegen bestimmte Nationalitäten oder Glaubensrichtungen allen Ernstes fragt, wo genau der „Hass“ ist, wenn jemand mit ruhiger Stimme einen Waffenstillstand fordert, weil Zivilisten sterben? Diese Frage und die mit ihr einhergehende Unsicherheit, wo denn nun eigentlich genau Israel-Kritik endet und Anti-Semitismus anfängt, kann nur entstehen, weil die Definition von Antisemitismus in Deutschland dermaßen weit gefasst ist, dass sie eigentlich genau dem widerspricht, was in solchen Situationen gefordert ist: Ein freies, dialektisches Denken, Sprechen und Handeln. Keine Pauschalisierungen, sondern ein klares Abgrenzen einzelner Themen voneinander. 

Die Arbeitsdefinition
Zu finden ist sie auf den Seiten des Antisemitismus-Beauftragten der Bundesregierung. Und jetzt wird es ein bisschen „tricky“. Denn bei dieser Definition handelt es sich mitnichten um ein Gesetz. Es ist eine „Arbeitsdefinition“, die 2017 von der damaligen Bundesregierung durch einen Kabinettbeschluss verabschiedet und in Umlauf gebracht wurde. Weder der Bundestag, noch der Bundesrat haben sie als Gesetz ratifiziert. Der Grund dafür: Man befürchtete, dass das Gesetz nicht durch den Bundestag gehen würde, da es auch in den Reihen der Regierungsparteien Kritik daran gab, diese Definition sei zu weit gefasst und zu schwammig. Und ein Antisemitismus-Gesetz, dass den Deutschen Bundestag nicht passiert – den Skandal wollten sich Merkel und Kollegen ersparen. Und so lautet die aktuelle „Arbeitsdefinition“: "Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen. Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein."

Alle in einem Sack
Und genau das ist der Grund, warum es jederzeit möglich ist, die Kritik am Vorgehen des israelischen Militärs im Gaza-Streifen – und sei sie noch so leise, vorsichtig und zurückhaltend vorgebracht – als Antisemitismus einzustufen und warum man einen US-Filmemacher mit Palästinensertuch, der auf der Bühne der Berlinale steht und den Satz sagt: „…und natürlich stehen wir für einen Waffenstillstand und gegen den Genozid.“ als „Judenhasser“ einordnen darf. Und dass es als Grundlage dieser Einordnung genügt, anzumerken, dass der Überfall der Hamas am 07. Oktober nicht erwähnt wurde. Eine so wachsweiche Formulierung wie diese „Arbeitsdefinition“ hat unweigerlich zwei Folgen: Man stellt diejenigen, die das Vorgehen Israels aus humanitären Gründen kritisieren auf eine Stufe mit Rechtsradikalen, die den Holocaust leugnen und verliert – wieder mal – einen guten Teil der Bevölkerung, die sich einerseits klar gegen Antisemitismus positionieren, aber dennoch das Vorgehen Israels nicht gutheißt. Frei nach dem Motto: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Und man spielt denen in die Hände, die nicht aufhören wollen, von der jüdischen Weltverschwörung zu schwafeln, die auch unsere Regierung fest in der Hand habe.

Alle in einem Sack
Alternativweltgeschichte, auch Parahistorie genannt, beschäftigt sich mit Denk-Szenarien, die alle auf der Frage „Was wäre, wenn…?“ basieren. Wie hätte sich unsere Gesellschaft entwickelt, wenn die Römer die Schlacht im Teutoburger Wald gewonnen hätten? Oder was wäre passiert, wenn Adolf Hitler an der Wiener Kunstakademie angenommen worden wäre? Darüber gibt es hochspannende Abhandlungen, bekannte Hollywoodfilme wie "Vaterland" nach dem Roman von Robert Harris und – kleiner Lesetipp – einen grandiosen, wenn auch etwas abgefahrenen, Roman des englischen Schauspielers und Schriftstellers Stephen Fry mit dem Titel „Geschichte machen“. Parahistorie zeigt sehr schnell und sehr gut, wie wichtig es ist, Dinge nicht eindimensional zu betrachten und zu pauschalisieren. Alles hat Auswirkungen auf alles. Nehmen wir zum Beispiel an, der englische König Heinrich VIII. wäre sein ganzes Leben lang ein treuer Ehemann gewesen. Klingt erst mal unspektakulär. Aber wäre es so gewesen, hätte er seine zweite Frau Anne Boleyn nie geheiratet und deren Tochter, Königin Elizabeth I., wäre nie geboren worden. Und damit die Königin, unter deren Regierung England zum Weltreich wurde. Kurz: Wäre ein englischer König im 16. Jahrhundert seiner Frau treu gewesen, hätte das deutsche Jugendwort des Jahres 2021 mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht „cringe“ gelautet, weil Englisch wohl nie zur Weltsprache aufgestiegen wäre. Und nun - unter dem Eindruck des Berlinale-Skandals - ist eine andere parahistorische Frage zwar provokativ, aber doch hochspannend. Vor allem zeigt sie, wie wichtig es wäre, etwas Stringenteres und Klareres zu haben als diese "Arbeitsdefinition":

„Was wäre, wenn Wladimir Putin und die russische Bevölkerung jüdischen Glaubens wären…?

Einfach mal sacken lassen...

Schwarz und Weiß

Warum der Umgang mit AfD-Wählern jetzt leichter ist

21.01.2024 

Auch wenn es erst einmal seltsam klingt, aber: Die Recherchen von Correctiv.org und die Veröffentlichungen rund um das geheime Treffen dieser kruden Mischung aus rechtsextremen Aktivisten, AfD-Politikern, Mitgliedern der Werteunion und sonstigem Irrlichtern, die sich einem faschistischen Gedankengut zumindest mal nicht verwehren, hat einiges leichter gemacht. Zumindest was den täglichen Umgang mit AfD-Sympathisanten -Wählern oder – noch schlimmer – Mitgliedern dieser Partei angeht. Denn solchen Menschen muss jetzt klar sein: Seit der Veröffentlichung gibt es keine Ausreden mehr. Sie können nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, die faschistischen Züge dieser Partei unterschätzt zu haben. Die Zeit des „Ja, aber…“ ist vorbei. Auch die Ausrede, den „Altparteien“ einen „Denkzettel“ verpassen zu wollen, zählt nicht mehr. Jeder, der jetzt noch mit dem Gedanken spielt, in eine Wahlkabine zu spazieren und sein Kreuz rechts außen zu setzen, ist kein Mitläufer oder Unterstützer mehr. Er ist ein Mittäter. 

Distanzieren oder Täter sein
Seit dem 10. Januar 2024 geht jede „verbale Entgleisung“ auf Veranstaltungen, jede fremdenfeindliche Beleidigung, jeder tätliche Angriff von politischen Rechten auf Migranten, Homosexuelle, Linke oder andere Menschen, deren Lebensentwurf in irgendeiner Weise nicht in die feuchten Lebensborn-Träume dieses Packs passt, auf die Rechnung eines jeden, der sich nicht mit glasklarer Kante von der AfD distanziert. Jeder Einzelne macht sich an jeder Tat mitschuldig. Denn man wählt keine Partei, die sich ernsthaft mit den menschenverachtenden Ideen eines österreichischen Extremisten – und Geschichte wiederholt sich doch – beschäftigt. Man wählt keine Partei, die dem Verbrechen der „Deportation“ mit „Remigration“ einen neuen Namen gibt und darüber nachdenkt, wie man nicht nur Migranten ohne deutsche Staatsangehörigkeit möglichst schnell aus dem Land bringt, sondern auch diejenigen, die zwar einen deutschen Pass haben, aber deren Denke nicht in das eigene völkische Bild passt. Man wählt keine Faschisten.

Blaupause Wannseekonferenz
Man wählt keine Partei, die solche Pläne im Hotel „Landhaus Adlon“ bespricht, das Luftlinie gerade einmal 8 Kilometer von der Villa entfernt ist, in die Reinhard Heydrich am 20. Januar 1942 zur Wannseekonferenz eingeladen hatte. Also der Ort, an dem die Nazis die „Endlösung“ der Judenfrage beschlossen. Man wählt keine Partei, die es für eine gute Idee hält, alle aus Deutschland „remigrierten“ Menschen in einen „Musterstaat“ in Nordafrika „zu bewegen“. Weil das nicht nur vollkommen irre ist, sondern vor allem eine widerliche Kopie. 1940 entwarfen die Nazis den „Madagaskarplan“. 4 Millionen europäischen Juden sollten per Schiff auf die afrikanische Insel umgesiedelt werden. Nur stellte sich heraus, dass das dann doch zu teuer war, worauf man sich zwei Jahre später bei der Wannseekonferenz für die „günstigere Variante“ entschied. Wer solche Gedanken unterstützt, mitdenkt, sie billigend in Kauf nimmt oder auch nur darüber hinwegsieht, hat jedes Recht verwirkt, seinen Mund innerhalb eines demokratischen Diskurses zu öffnen. Der ist keinen Deut besser als dieses braune Pack. Und dessen Meinung ist obsolet.

Faschisten hören niemals auf, Faschisten zu sein…
Spätestens mit dieser Veröffentlichung muss dem letzten Clown, der irgendwo noch einen winzigen Rest Anstand in sich trägt, klar sein: Das ist kein Spiel. Die AfD ist keine Partei, mit der man die „Großen“ ärgert. Eine, die dafür sorgen wird, dass dieses Land wieder funktioniert. Diese Partei will an die Macht, um aus Deutschland einen Staat zu machen, in dem es möglich ist, jeden Andersdenkenden – ob er Deutscher ist oder nicht – des Landes zu verweisen. Dafür muss dieser weder links sein, noch der Antifa angehören. Man muss schlicht human und liberal sein. Das sind keine Hirngespinste, das ist keine Panikmache. Spätestens seit dem 10. Januar muss jedem klar sein: Das ist die Realität. Sollte die AfD mit der Schützenhilfe dieser „Denkzettel-Spinner“ an die Macht kommen, wird der Wolf sein Schafspelz fallen lassen. Und dann wird ihr Spindoktor, der Faschist Björn Höcke, das Ruder, das er derzeit nur aus dem Hintergrund durch willige Marionetten wie Tino Chrupalla in der Hand hält, auch offiziell übernehmen. Höcke, der erst in diesem Sommer in einem Interview mit dem MDR gefordert hat, „Belastungsfaktoren vom deutschen Bildungssystem wegzunehmen“. Wie etwa Kinder mit Behinderungen. Inklusion sei eines der „Ideologieprojekte“, von dem man das Bildungssystem „befreien“ müsse. Solche Projekte würden „unsere Schüler nicht weiterbringen“ und „nicht leistungsfähiger machen“. Sie führten nicht dazu, „dass wir aus unseren Kindern und Jugendlichen die Fachkräfte der Zukunft machen“. Überrascht? Warum? So denken Faschisten eben über „unwertes Leben“, das den Volkskörper vergiftet.

…man diskutiert mit ihnen nicht, hat die Geschichte gezeigt.
Es gibt seit dem 10. Januar 2024 kein Grau mehr. Keine Schattierungen. Es ist seit diesem Tag vollkommen unerheblich, ob das Wahlprogramm der AfD irgendetwas Sinnvolles beinhaltet oder nicht. Man muss sich nicht mehr damit beschäftigen. Keine Diskussionen führen. Denn es gibt bezüglich dieser Partei nur noch Schwarz oder Weiß, ja oder nein. Und es ist Zeit, dass die demokratischen Parteien von ihrem hohen Ross steigen und erkennen, dass an einem Verbotsverfahren gegen die AfD nichts vorbeiführt. „Inhaltlich schlagen“ oder „mit Argumenten überzeugen“ funktioniert nicht mehr. Der Zug ist abgefahren. Menschen, die diese Partei wählen, wollen nicht diskutieren und schon mal gar nicht auf dem Boden des Grundgesetzes eines demokratischen Landes. Dass die Gefahr besteht, ein Verbotsverfahren könnte so wirken, als wolle man sich nur die Konkurrenz vom Leib schaffen – so what? Und auch, ob diese Hirntoten sich dann wieder unter einer anderen Flagge zusammenfinden, ist vollkommen egal. Das rechte Gesocks will Machiavelli spielen? Dann spielen wir doch Machiavelli. Der Zweck heiligt die Mittel. In diesem Fall heißt das Mittel Artikel 21 des Grundgesetzes. Ein Artikel, der von Menschen dort hineingeschrieben wurde, die sehr gut wussten, wohin es führen kann, wenn man glaubt, Nazis und ihre Anhängern mit Argumenten beikommen zu können.

Push the button?
Und wer immer noch glaubt, das seien alles nur politische Spielchen und in der Realität sähe das alles ganz anders aus und die Gesellschaft würde Pläne wie die der „Remigration“ nie stützen, dem sei der Film „Who ist America?“ des britischen Komikers Sasha Baron Cohen empfohlen. Cohen drehte diesen Dokumentarfilm 2018 ganz im Stil seines bekannteren Films „Borat“. Er schlüpfte in verschiedene Rollen, um die Gesellschaft bloßzustellen. Unter anderem gab er sich gegenüber einem militanten Trump-Anhänger der „Alt-Right“ als israelischer Anti-Terror-Experte aus und konfrontierte ihn mit völlig abstrusen Fake-News. Er behauptete, der Geheimdienst habe gesicherte Informationen darüber, dass die Antifa während einer Demonstration der Rechten in San Francisco versuchen würde, Hormone in Babywindeln zu spritzen, um die Kinder später transsexuell werden zu lassen. Cohen wollte sehen, wie weit dieser – ansonsten gebildete und freundliche – Mann gehen würde und schlug ihm vor, unbemerkt kleine Sprengladungen an drei angeblichen Antifa-Mitgliedern - Cohens Mitarbeiter - zu befestigen. Natürlich waren die Sprengladungen Attrappen. Das wusste aber nur Cohen. Er wollte wissen, wie weit der Mann wirklich gehen würde. Er gab ihm also einen Auslöser in die Hand und sagte ihm, damit könne er die drei Sprengladungen explodieren lassen. Und der Mann drückte ohne Zögern den Knopf.

 

"Diejenigen, die Dich dazu bringen können, Absurditäten zu glauben, können Dich dazu bringen, Gräueltaten zu begehen."

Voltaire

 

Die Wurzel des Übels

Warum es 2024 wichtig sein wird, nicht dumm zu sein

31.12.2023 

Was schreibt man auf einem Blog zum Jahresende? Seit Wochen schlage ich mich mit dieser Frage herum. Ich glaube für keinen Text auf dieser Seite hatte ich so viele unterschiedliche Ideen, Ansätze und Anfänge. Und ich bin mir noch nicht wirklich sicher, dass dieser Text hier der richtige ist. Aber irgendwie widerstrebt es mir zutiefst, diesem Blog keinen Jahresabschluss zu geben. Die Frage ist nur eben: „Wie?“. Vielleicht sollte ich was über die „German Angst“ schreiben? Ein feststehender Ausdruck im Englischen, der – im Gegensatz zur „normalen“ Angst (fear) – die Eigenschaft beschreibt, aus allem eine Katastrophe zu machen und immer das Schlechteste zu erwarten. Einen Begriff, den es mit gutem Recht gibt. Wenn wir mal zurückblicken, mit welchen Schlagzeilen wir in den vergangenen 12 Monaten von deutschen Medien bombardiert wurden und was davon wirklich eingetroffen ist…Wo waren die Scharen frierender Menschen wegen leerer Gasspeicher? Wo waren die Masseninsolvenzen von Traditionsbäckereien aufgrund zu teuren Stroms? Wo sind die Nachbarn, die sich durch die Inflation den Wocheneinkauf nicht mehr leisten konnten? Wo die Benzinpreise, die uns dazu gezwungen haben jede Fahrt zu einem Luxusgut machen? Was davon ist wirklich eingetroffen? Welche dieser Katastrophen hat uns ereilt?  

Die neue Sau im digitalen Dorf
Oder vielleicht sollte ich wieder mal etwas über Social Media schreiben? Darüber, dass wir alle – verdammt nochmal – nicht über jedes Stöckchen springen sollten, das uns auf Instagram, TikTok & Co. hingehalten wird und das nicht wenige Politiker als Steilvorlage nutzen. Welche Bedeutung hat das „Gendern“ im Alltagsleben jedes Einzelnen von uns? Bei den meisten lautet die Antwort: keine. Und dennoch glauben wir, Stellung beziehen zu müssen, wenn der Bayerische Ministerpräsident ein „Genderverbot an Schulen“ ankündigt. Denn natürlich ist das Thema eine Luftblase. Ein Scheingefecht. Eine billige Masche, um Wählerstimmen zu generieren. Söder tut sowas, weil er Applaus aus einer ganz bestimmten Ecke will und wir tun ihm den Gefallen und halten das Thema am Kochen. Social Media vermittelt uns das trügerische Bild, wir hätten eine Stimme und diese Stimme wäre wichtig. Ist sie aber nicht. Social Media ist eine Nebelkerze der Pseudobeteiligung am gesellschaftlichen Diskurs. Wir sollen lediglich das Gefühl haben, etwas bewirken zu können und gehört zu werden. Und während wir uns über Gendern, veganes Kantinenessen oder Böllerverbote die Köpfe heiß diskutieren und während Beleidigungen, Verleumdungen und Morddrohungen durch die Gegend fliegen und die Diskussion schlussendlich in der wiederkehrenden Frage mündet, warum wir keine „Debattenkultur“ mehr haben, werden in aller Ruhe und unter Ausschluss genau dieser Öffentlichkeit die wirklich wichtigen Entscheidungen gefällt.

Das Erbe der Raute
Oder vielleicht wäre dieser letzte Eintrag für 2023 auch der richtige Zeitpunkt, um sich endlich die Regierung Merkel genauer anzusehen. Aufzuzeigen und nachzuweisen, dass all unsere Probleme, die wir derzeit in diesem Land wie eine riesige Bugwelle vor uns herschieben, ihren Ursprung in 16 Jahren „Mutti mit Raute“ haben. Ob fehlender Internetausbau, Bahn-Desaster, Migrationskrise oder Schlusslicht beim Ausbau erneuerbarer Energien – alles lässt sich auf Angela Merkel und ihre Mikado-Politik zurückführen. Wer sich bewegt, verliert. Das sklavische Festhalten an einer vollkommen wahllos festgelegten Schuldenbremse in Kombination mit einem bis zur Unkenntlichkeit abgeschliffenen politischen Profil – so dass man eben für die meisten Menschen in Deutschland „wählbar“ war – hat dafür gesorgt, dass dieses Land zwar die Pandemie dank voller Kassen überstand, dass aber diese Kassen jetzt leer sind und die Ampel die unrühmliche Aufgabe übernehmen muss, die Merkel in 16 Jahren gemieden hat wie der Teufel das Weihwasser: Den Menschen an den Geldbeutel gehen. Diese Art der Politik. Dieses „in die Mitte rücken, um möglichst beliebig zu sein und wiedergewählt zu werden“ hat unserer Wirtschaft in Richtung Klippe geschoben und gefährdet noch heute unsere Demokratie. Denn erst Merkel hat mit ihrem Kurs der Mitte Platz für die AfD gemacht.

Die Rückkehr des Gelben
Oder schreibe ich prinzipiell über den Rechtsruck? Das Thema, mit dem wir uns in den nächsten Monaten auseinandersetzen werden müssen. Denn spätestens Ende des kommenden Jahres wird der Wind – wenn kein Wunder geschieht – gehörig von rechts wehen. Zum einen weil die USA am 5. November 2024 einen neuen Präsidenten wählen werden. Und der wird dann wohl wieder Donald Trump heißen. Daran werden auch die löblichen Versuche der Bundessstaaten Colorado und Maine nichts ändern, die den gelb-behelmten Irren von den Vorwahlen ausgeschlossen haben. Trump hat bereits angekündigt, dass er deshalb vor den Obersten Gerichtshof ziehen wird. Und den hat er wohlweißlich kurz vor Ende seiner letzten Amtszeit mehrheitlich mit „seinen Leuten“ besetzt. Nicht einmal eine Verurteilung in einer der zahlreichen Prozesse gegen ihn, könnte Trump daran hindern, Präsident zu werden. Es gibt nichts in der US-Verfassung, das einem Kandidaten verbietet, aus dem Gefängnis heraus zu regieren. Und sollte das der Fall sein – sollte Trump wirklich ins Weiße Haus einziehen – muss man kein Polit-Profi sein, um voraussagen zu können, was dann aus der amerikanischen Unterstützung für die Ukraine wird und was das an Mehrbelastungen für die EU bedeuten würde, sollte Orban bis dahin nicht noch mehr Länder um sich geschart haben. 

Ein jeder kehr' vor seiner Tür...
Aber wir müssen gar nicht über den großen Teich sehen. Auch hierzulande werden die Uhren ab Herbst 2024 historisch neu gestellt werden müssen. Denn dann wird, wenn es ganz doof läuft, zum ersten Mal nach Ende des  Zweiten Weltkriegs ein Faschist ein deutsches Länderparlament anführen. Am 1. September wird in Sachsen und Thüringen, am 22. September in Brandenburg der jeweilige Landtag neu gewählt. In allen drei Ländern ist die AfD zumindest zweitstärkste Partei. Das Schlimme daran ist aber nicht, dass der braune Mob in unserer Gesellschaft „endlich“ die Möglichkeit hat, Gleichgesinnte zu wählen. Das Schlimme daran sind die Menschen, die immer noch nicht verstanden haben, dass diese Partei sich einen Dreck um sie und ihre Probleme kümmern wird. All die selbsternannten „Abgehängten“, die glauben, dass man es „denen da oben“ zeigen könne, indem man diese Mischung aus Revanchisten, Karrieristen und Faschisten wählt, deren Wahlprogramm man besser nicht ausdruckt, weil nun wirklich kein Baum es verdient hat, für eine solche Ansammlung hirnloser Nichtigkeiten zu sterben. Wer sich selbst ein Bild davon machen will, warum man als Bauer, Geringverdiener oder Arbeitsloser besser mal nicht die AfD wählen sollte, dem sei die Seite „AfDnee.de“ und hier besonders der Faktencheck ans Herz gelegt.

Alter Wein, neue Schläuche, gemeinsame Wurzeln
Das neue Jahr wird also beginnen wie das alte aufgehört hat. Mit einer Ansammlung von Themen, Problemen und Katastrophen, die – so unterschiedlich sie auch sein mögen – alle den gleichen Ursprung haben: Die menschliche Dummheit. Es ist dumm, vor Dingen Angst zu haben, nur weil sie als eventuelles Worst-Case-Szenario von Medien an die Wand gemalt werden, deren oberstes Ziel es ist, Aufmerksamkeit zu generieren. Es ist dumm, zu glauben, dass ein Thema Relevanz hat, nur weil es gerade als neue Sau durch das digitale Dorf getrieben wird. Es ist dumm, wahllos auf die Ampel-Regierung einzuhämmern, deren Hauptarbeitsaufwand darin besteht, die Dinge anzugehen, die eigentlich von den Regierungen unter Angela Merkel seit Jahren hätten angegangen werden müssen. Und es ist bodenlos dumm, zu glauben, man könne etablierten Parteien einen „Denkzettel“ verpassen, indem man einer Partei seine Stimme gibt, die in ihrem „Wahlprogramm“ für genau diese Wähler keinerlei Angebote hat und deren oberstes Ziel die Spaltung dieser Gesellschaft ist.

Und deshalb überlasse ich die letzten Worte im Jahr 2023 dem nicht hoch genug zu schätzenden Dietrich Bonhoeffer, der während seiner Gestapo-Haft nicht nur das Gedicht „Von guten Mächten treu und still umgeben“ geschrieben hat, das zu einem der bekanntesten Kirchenlieder der Nachkriegszeit wurde, sondern auch den Text „Von der Dummheit“ (den gesamten Text findet Ihr hier):

Dummheit ist ein gefährlicherer Feind des Guten als Bosheit. Gegen das Böse läßt sich protestieren, es läßt sich bloßstellen, es läßt sich notfalls mit Gewalt verhindern, das Böse trägt immer den Keim der Selbstzersetzung in sich, indem es mindestens ein Unbehagen im Menschen zurückläßt. Gegen die Dummheit sind wir wehrlos. Weder mit Protesten noch durch Gewalt läßt sich hier etwas ausrichten; Gründe verfangen nicht; Tatsachen, die dem eigenen Vorurteil widersprechen, brauchen einfach nicht geglaubt zu werden – in solchen Fällen wird der Dumme sogar kritisch – und wenn sie unausweichlich sind, können sie einfach als nichtssagende Einzelfälle beiseitegeschoben werden. Dabei ist der Dumme im Unterschied zum Bösen restlos mit sich selbst zufrieden; ja, er wird sogar gefährlich, indem er leicht gereizt zum Angriff übergeht. Daher ist dem Dummen gegenüber mehr Vorsicht geboten als gegenüber dem Bösen. Niemals werden wir mehr versuchen, den Dummen durch Gründe zu überzeugen; es ist sinnlos und gefährlich.

 

Vom Massenartikel zum Einzelstück

Warum sollten sie anders ticken?

02.12.2023 

Der Username der jungen Frau ist @danarosa. Im August dieses Jahres ging eines ihrer TikTok-Videos viral. Die meisten, die es gesehen haben, haben als nächstes ihr Profil gecheckt. Sichergehen, dass es kein Satire- oder Comedy-Account ist. Denn Dana Rosa – frisch von der Uni – berichtet darin von ihrer Jobsuche. Das Ergebnis treibt ihr im wahrsten Sinne des Wortes die Tränen in die Augen. Sie sitzt da wie ein Häufchen Elend und ist fassungslos „Da sind Leute, die wollen dir 36.000 Euro brutto im Jahr geben…als Vollzeitangestellte!“, schluchzt sie mit tränenerstickter Stimme. Aber es kommt noch schlimmer. Denn da sind ja auch noch 30 Tage Jahresurlaub. Nur! Dana Rosa kann mit einer solchen Ausbeutung künftiger Arbeitnehmer nur schwer umgehen. „Und das Schlimme ist: Das ist ja auch noch viel…im Jahr…wir reden hier von einem ganzen Jahr!“ Wann den Haushalt machen? Wann einkaufen gehen? Wann die Beziehung pflegen? Wann sich mit den Freunden treffen, wenn man vom Vollzeitjob total fertig ist? Wie kann man so leben? Heulen und Zähneklappern. Auf TikTok gibt es das Video hier in voller Länge, auf YouTube in zwei Teilen: Teil 1 & Teil 2.

Selbst schuld?
„Herzlich willkommen in der Realität!“, „36.000 hätte ich auch gern als Einsteiger verdient.“, „Verwöhnte Göre!!!“, „Typisch Generation Z. Nur Ansprüche stellen, ohne was leisten zu wollen.“ Geschätzt 99% der Kommentare unter diesem Video gehen in die gleiche Richtung. Klar – über Wortwahl, korrekte Zeichensetzung und Groß- und Kleinschreibung kann man streiten – wie immer auf Social Media. Fakt ist aber: Es gibt in diesem Spiel nur eine Person, deren Realitätshorizont ordentlich verzogen ist und das ist Dana Rosa. Wir müssen nicht darüber diskutieren, dass ein Brutto-Einstiegsgehalt von 36.000 Euro für eine Berufseinsteigerin mehr als nur ok ist und wir müssen auch nicht darüber reden, dass 30 Tage Urlaub durchaus üppig sind. Und lassen wir bitte auch die Diskussion außen vor, die derzeit immer wieder aufflammt: Ist die Generation Z – also die Jahrgänge von 1995 und 2009 – zu verweichlicht und zu fordernd für das Berufsleben? Bleiben wir noch einen Moment bei Dana Rosa. Denn das, was man in dem Video sieht, sind keine Krokodilstränen. Keine Schauspielerei. Kein Wichtigmachen. Hier sitzt eine junge Frau, die ganz knapp an einem veritablen Nervenzusammenbruch vorbeischrammt. Weil sie scheinbar niemand darauf vorbereitet hat, dass die Realität nichts mit ihrer bisherigen Wohlfühlblase zu tun hat, die jetzt mit einem riesigen Knall zerplatzt ist. 

Training für den Ernstfall
Der Prozess des Erwachsenwerdens – das „Maturity Continuum“ – läuft bei allen Säugetieren ähnlich ab. Zwischen der Phase der „Dependence“ – also der absoluten Abhängigkeit von den Eltern - und der Phase der „Independence“, dem Erwachsensein, liegt die der „Counter-Dependence“. Die Phase, in der sich die Nachkommen zu erwachsenen Wesen entwickeln. Nach wieviel Jahren diese Phase beginnt und wie lange sie dauert, ist direkt abhängig von der Lebenserwartung der Art. Bei Hunden etwa, die im Schnitt 13 Jahre alt werden, setzt sie zwischen dem 6. und 12. Lebensmonat ein, dauert zwischen 7 und 24 Monate und ist vor allem geprägt vom Versuch des Junghundes, seine Position im Rudel zu verbessern, bzw. zu festigen. Und auch bei uns Menschen sind der Streit um Taschengeld, Ausgehzeiten, Hausaufgaben, Musik, Klamotten, Politik, stöhnendes Augenverdrehen, Türknallen, laut werden und Sätze wie „Ihr seid soooo peinlich!!!“ und „Ihr versteht das nicht!“ im Wesentlichen nichts anderes als Rangkämpfe. Diese Zeit ist dazu da, das Erwachsensein in einer Art „geschütztem Raum“ zu trainieren. Mal die Zehen ins kalte Wasser der Realität zu tauchen, ohne gleich schwimmen zu müssen. Auffällig aber ist, dass diese Phase bei uns Menschen scheinbar immer später beginnt, immer länger dauert und sich vor allem dadurch auszeichnet, dass der Nachwuchs zwar rebelliert, von den Eltern aber immer weniger Gegenwehr kommt. 

Eine Wohlstands-Erfindung
Der Kulturwissenschaftler und Musik-Journalist Jon Savage geht noch einen Schritt weiter. Er kommt in seinem Buch „Teenage“ zu dem Schluss: Die Teenagerzeit, wie wir sie heute kennen, ist eine „Erfindung“ einer wachsenden, westlichen Wohlstandsgesellschaft. Und wirklich – wer unter diesem Aspekt historisch auf die Entwicklung von Familie schaut, der erlebt eine Überraschung. Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts hatten Kinder vor allem eine Funktion: Sie waren die „lebende Rentenversicherung“ ihrer Eltern. Je nach Ära und Lebensumständen begann das Erwachsenenalter mit ungefähr 14 Jahren. Im Mittelalter etwa bekamen Söhne von Stadtbürgern in diesem Alter die Bürgerrechte verliehen. Aber schon davor war das Leben der Kinder vor allem durch Arbeit geprägt. Spätestens mit 6 Jahren begannen sie „ihren Teil“ zum Familieneinkommen beizutragen. Das gilt nicht etwa nur für das „finstere Mittelalter“. Bis ins 19. Jahrhundert hinein waren 5- oder 6-jährige Arbeiter – vor allem in der Textilindustrie und im Bergbau – nichts Ungewöhnliches. Eine individuelle „Teenagerzeit“, wie wir sie kennen, fand gar nicht statt. Denn Kinder waren „Massenware“. Mussten sie sein. Aufgrund der hohen Kindersterblichkeit, die im 14. Jahrhundert bei den bis zu 13jährigen bei 40% lag und Ende des 19. Jahrhunderts immer noch bei 25%, funktionierte das mit der Altersvorsorge für die Eltern eben nur, wenn man genug Nachkommen in die Welt setzte. Und weil das jahrhundertelang so war, lag auch die durchschnittliche Fertilitätsrate fast 1.400 Jahre lang mehr oder weniger konstant bei rund 5 Kindern.

Der Familien-Booster
Das 19. Jahrhundert ist in unseren Köpfen vor allem als Zeit der industriellen Revolution und damit der miesen Arbeitsbedingungen und der Arbeiter-Ausbeutung verankert. Das trifft aber nur zum Teil zu. Gerade die letzten 30 Jahre waren die Zeit der technischen und medizinischen Erfindungen und des sozialen Fortschritts. Die aufkommende Automatisierung verlangte zunehmend nach Spezialisten mit mehr Fachwissen, was zu einer fundamentalen Änderung des Schulsystems führte. Die Rechte der Arbeitnehmer wurden durch den aufkommenden Sozialismus – Stichwort Gewerkschaften – gestärkt. Die Wochenarbeitszeiten sanken. In den 1880er Jahren wurde in Deutschland die erste Renten- und die erste Krankenversicherung für Arbeiter eingeführt. Emil Behring entwickelte ein Mittel gegen Diphtherie, wodurch die Kindersterblichkeit extrem zurückging. Hygiene wurde als eine der wichtigen Stellschrauben für Gesundheit entdeckt. Kurz: Die Familie veränderte sich von der "zweckgebunden Produktionsgemeinschaft" zu einer kleineren Einheit, in der Konsum, Freizeit und Entspannung einen immer höheren Stellenwert bekamen. Und das wirkte sich unmittelbar auf die Anzahl der Kinder aus. Bereits 70 Jahre nach 1880 hatte sich die Fertilitätsrate, die sich 1.400 Jahre kaum verändert hatte, mehr als halbiert. 1950 lag sie noch bei 2,1 Kindern. Der Nachwuchs „mutierte“ von der Massenware zum individuellen Einzelstück.

Ein seltenes Gut
Der weiter zunehmende Wohlstand, die durchschnittlich steigende Bildung, der stärker werdende Einfluss moderner Wissenschaften wie der Pädagogik, sorgten nicht nur dafür, dass die Jugend immer später damit begann, Geld zu verdienen. Es verlängerte sich auch die „Verweilzeit“ in den elterlichen vier Wänden. Weil die Reibungspunkte immer kleiner wurden. Wirtschaftlich war ein frühzeitiges Verlassen der Eltern nicht mehr nötig und intellektuell zeigten Eltern immer mehr Verständnis für die Abnabelungs-Phase ihrer Kinder. Im Schnitt leben junge Erwachsene derzeit in Deutschland bis zu ihrem 25. Lebensjahr zuhause. EU-weiter „Spitzenreiter“ ist übrigens Portugal mit respektablen 34,4 Jahren. Bekam meine Mutter in den 1950ern noch eine Ohrfeige, weil sie mit ihrem Freund händchenhaltend im Park gesehen worden war, schieden sich die Geister schon 30 Jahre später – in meiner Teenagerzeit – zum Großteil nur noch an Themen wie „Mode“, „Musik“ oder „Schulleistungen“. Und nochmal 15 Jahre später wurde bereits die Generation geboren, die so gut wie keinerlei Bedürfnis mehr entwickeln musste, sich aus der Enge des Elternhauses zu befreien. Weil es dafür keinen Grund gab. Im Gegenteil. Aktuell bringt jede Frau in Deutschland derzeit im Schnitt nur noch 1,45 Kinder auf die Welt. Kinder sind ein seltenes Gut geworden. Und dieses seltene Gut wird behütet. Oft mehr als es ihm gut tut. Die eigentliche Funktion der „Counter-Dependence“ – zu lernen, wie man sich in einer Welt zurecht findet, in der man eben nicht von seiner Umgebung von Herzen geliebt wird und in der man für sich und seine Belange kämpfen muss – wurde zusehends ausgehöhlt.

Was, wenn der Wind sich dreht?
Die Dana Rosas dieser Welt sind nicht schuld daran, dass sie nicht auf die Realität vorbereitet sind. Sie haben nie gelernt, dass das Pippi-Langstrumpf-Prinzip – „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“ – außerhalb der Familie und dem Freundeskreis nicht funktioniert. Denn nicht nur Mama und Papa haben ihnen in ihren Helikoptern fleißig alle Steine aus dem Weg geräumt. Jahrelang wurde ihnen erzählt, dass sie die Generation sind, die sich die Jobs später aussuchen kann. Der demografische Wandel macht’s möglich. Home Office? 4-Tage-Woche? Jobticket? Klar! Schließlich ist aus dem War of talents“, dem Kampf der Bewerber um eine Stelle, längst der „War for talents“ geworden, bei dem sich die Unternehmen bei den zukünftigen Arbeitnehmern bewerben müssen. „Cherry Picking“ gehört da zum guten Ton. Inmitten der boomenden und gesunden Wirtschaft des Exportweltmeisters ist das auch alles in Ordnung. Was aber, wenn die Wirtschaft in Schieflage gerät, weil der Staat plötzlich mit harten Bandagen Subventionen und Sozialleistungen streichen muss, um das ein oder andere Milliarden-Loch zu stopfen, weil das Wirtschafts-Modell, das Jahrzehnte funktioniert hat, nicht mehr greift? Was, wenn dieser Wirtschaft knapp 1 Million Fachkräfte fehlen und sie deshalb irgendwann die Notbremse zieht und die Unternehmen sich „gesundschrumpfen“ müssen? Was passiert, wenn große Unternehmen wie Merck, Metro, Tchibo, Playmobil, Ford, Telekom oder VW nach Jahren plötzlich wieder den Begriff „Stellenabbau“ in den Mund nehmen? Dann könnte es sein, dass die Eltern ihren 1,45 Kindern erklären müssen, warum sie ihnen nicht beigebracht haben, dass 36.000 Euro brutto und den 30 Tagen Urlaub im Jahr relativ wenig mit Ausbeutung zu tun haben.

Im Studium hatte ich eine Kommilitonin, die bis zur 12. Klasse eine Waldorf-Schule besucht hatte, dann aber wechselte, weil sie ihr Abitur an einem staatlichen Gymnasium schreiben wollte. Für sie war dieser Wechsel ein absoluter "Kulturschock" gewesen. Notendruck, große Klassen, desinteressierte Lehrer - ein staatliches Gymnasium eben. Für sie war das Konzept der Waldorfschule das pädagogisch bessere. Weil es Fähigkeiten unterstützt und fördert und nicht Lücken und Defizite aufzeigt. Als ich sie fragte, ob sie später ihre Kinder auch auf eine Waldorfschule schicken würde, sagte sie zu meiner absoluten Überraschung: "Nein." Ihre Begründung: "Ich werde meine Kinder in dem Moment auf eine Waldorfschule schicken, in der unsere Welt nach den Regeln von Rudolf Steiner funktioniert. Alles andere wäre ihnen gegenüber unfair."

 

Wer braucht schon einen Plan B?

Das Worst-Case-Dreigestirn der Ampel 

26.11.2023 

Ich habe die ersten 12 Jahre meines Berufslebens in einer TV-Nachrichtenredaktion verbracht. Eine Zeit, in der ich sehr viel gelernt habe. Als Volontär, dass Journalismus – wie jeder andere Beruf – ein Handwerk ist, dass man erlernen und beherrschen muss. Als Redakteur, was Teamwork bedeutet und wie sehr ein gemeinsames Ziel, wie eine 30-minütige Live-Sendung, zusammenschweißen kann. Ich habe gelernt, dass man für gewisse Jobs „gebaut“ sein muss, nicht jeder unter Zeitdruck arbeiten und gute Ergebnisse liefern kann. Und dass man damit umgehen können muss, „für die Tonne“ gearbeitet und Ressourcen verschwendet zu haben, wenn man bis zum Sendungsbeginn nicht fertig ist. Nichts ist älter als die Nachricht von gestern. Als CvD und Redaktionsleiter habe ich schließlich gelernt, dass wohl in keinem anderen Job „Murphy’s Gesetz“ so oft ein treuer Begleiter ist, wie in einer News-Sendung, dass nur Profis wirklich erfolgreich improvisieren können und dass man dennoch immer zumindest einen Plan B, besser noch einen Plan C, in der Tasche haben sollte.

What if?
Nun gilt diese Grundregel sicherlich nicht für jede Berufsgruppe. Als Verwaltungsangestellter im Öffentlichen Dienst kann man keinen Plan B oder C in der Tasche haben, weil es die nicht gibt – da gibt es nur Schema X. Wenn man aber mit dem Staatsetat einer der – noch – führenden Wirtschaftsnationen dieser Welt befasst ist und sich dafür entscheidet, einen Haushalt rückwirkend mit einem Taschenspielertrick aufzupumpen, dann ist die Mindestvoraussetzung, dass man sich Gedanken über das „Was wäre wenn“-Szenario macht. Spätestens als die Opposition im Juni Verfassungsklage gegen den Nachtragshaushalt eingereicht hat, hätten die Verantwortlichen der Ampel die Köpfe zusammenstecken müssen. „Was machen wir, wenn die damit durchkommen?" Dass das offensichtlich nicht geschehen ist, ist wohl an diesem ganzen Trauerspiel der Unbegreiflichkeiten das Unbegreiflichste. Die Gründe für diese absolute Vorbereitungslosigkeit haben mit dem Politikverständnis und den charakterlichen Eigenschaften der entscheidend handelnden Personen zu tun: Scholz, Habeck und Lindner. 

Vom Scholzomaten zum König
Vor seiner Zeit als Regierender Bürgermeister von Hamburg lautete der Spitzname von Olaf Scholz „Scholzomat“, weil er in seinen Ämtern eben eher einem Sprechautomat glich als einem handelnden Politiker. Dann – als Hamburger SPD-Chef – wurde er „König Olaf“. Er holte die Hamburger SPD aus dem Tal der Tränen. Scholz führte die Sozialdemokraten in der Hansestadt 2011 nach 10 Jahren Opposition wieder in die Regierung und zur absoluten Mehrheit. Seit dieser Zeit war nicht nur seine Umgebung von seiner Unfehlbarkeit überzeugt, bei ihm kam der Gedanke wohl auch auf. Bevor Hamburg im Jahr 2017 von Autonomen während des G20-Gipfels in seine Einzelteile zerlegt wurde und es zu den größten und brutalsten Straßenschlachten der Nachkriegsgeschichte kam, hatte Scholz auf Fragen nach den Sicherheitsmaßnahmen süffisant lächelnd geantwortet, man müsse sich da keine Sorgen machen. Hamburg richte ja auch jedes Jahr den Hafengeburtstag aus. Es werde sogar Leute geben, die gar nicht merken würden, dass der G20-Gipfel in der Stadt sei. Die Realität hieß dann: Schäden von 12 Millionen Euro in zwei Tagen. Dass Scholz sich 5 Jahre später vor dem Cum-Ex-Untersuchungsausschuss an nichts erinnern konnte, ist zwar weniger ein Zeichen von Selbstherrlichkeit, sondern viel mehr ein weiterer Fall von „selektiver Amnesie“, unter der viele Politiker in solchen Situationen leiden. Dennoch fiel er einigen Beobachtern durch sein Verhalten auf, das wortwörtlich als „überheblich, arrogant und verachtend gegenüber den Abgeordneten und dem Parlament“ beschrieben wird. Und so kann man sich eben gut vorstellen, dass der designierte Kanzler beim Verfassen des Koalitionsvertrags darauf verwies, dass der 60-Mrd.-Taschenspielertrick, für den Privatunternehmen wegen Bilanzfälschung vor dem Kadi stehen würden, bombensicher ist. Schließlich kam die Idee vom vorherigen Finanzminister himself: König Olaf.

Wird schon klappen
Neben der Arroganz des Regierungschefs war ein weiter Baustein auf dem Weg zu diesem historisch beispiellosen politischen Totalversagen die „Hemdsärmeligkeit“ des Robert Habeck. Beim Bundeswirtschaftsminister hat sich inzwischen ein Muster verfestigt. Man gewinnt zusehends den Eindruck, dass in Habecks norddeutscher Seele ein waschechter Kölner wohnt, der sich § 3 des „kölschen Grundgesetzes“ zum Motto gemacht hat: „Et hätt noch immer jot jejange“. Ob von ihm selbst eingeräumte „handwerkliche Fehler“ bei der Gasumlage oder das Chaos rund um die Energiepreisbremse, das sowohl Energieversorger als auch -lieferanten vor erhebliche Probleme und Kosten stellte oder die kommunikative Bankrotterklärung namens Heizungsgesetz – Habecks Grundsatz scheint zu lauten: Erst handeln, dann auf Machbarkeit prüfen. Und wenn sich dann wirklich Kritik an seinem Handeln regt, wird er gerne auch mal unwirsch. Dann zeigt sich ein Verhalten, das für den Wirtschaftsminister der Bundesrepublik Deutschland mehr als fragwürdig ist. Bereits 2022 fiel er damit auf, dass er die Deutsche Umwelthilfe davor warnte, gegen den Bau von LNG-Terminals zu klagen. In der vergangenen Woche – nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts – ließ er sich im Interview mit dem Deutschlandfunk zu dem Satz hinreißen: „Die Union klagt dafür, dass die Menschen in Deutschland höhere Preise bezahlen. Schönen Dank, Friedrich Merz.“ Dazu nur so viel:

Es ist völlig unstrittig, dass der Bau der LNG-Terminals wichtig und richtig war und es liegt auf der Hand, dass die Union die Verfassungsklage vor allem eingereicht hat, um der Ampel zu schaden und und billigend in Kauf genommen hat, dass uns alle dieses Urteil noch sehr teuer zu stehen kommen wird. Aber ein Bundesminister, der – weil er der Überzeugung ist, dass er das einzig Richtige tut – vor der Ausübung eines Grundrechts warnt oder per Täter-Opfer-Umkehr den kritisiert, der dieses Recht wahrnimmt, hat ein zumindest fragwürdiges, wenn nicht sogar gefährliches, Demokratieverständnis.

Back to the 90s 
Über den dritten im Bunde ließe sich unheimlich viel sagen. Man könnte über seinen Kampf für staatliche Subventionen von E-Fuels sprechen und wie die im Zusammenhang mit seinen blendenden Kontakten zu einem schwäbischen Autohersteller zu werten sind, der kürzlich die weltweit größte E-Fuel-Pilotanlage in Chile in Betrieb genommen hat. Oder man könnte ihn fragen, wie er heute zu seine staatsmännischen Äußerungen stehe, die er vor nicht all zu langer Zeit in die Welt trompetete, dass es besser sei, nicht zu regieren als falsch zu regieren. Christian Lindner ist die Reinkarnation eines Managers zu Zeiten des Raubtier-Kapitalismus der 90er Jahre. Er betreibt rücksichtslos Klientel-Politik für die Industrie. Und das macht er so stümperhaft und unelegant, dass man sich wirklich fragen muss, wie kaputt ein System ist, in dem ein Christian Lindner eines der wichtigsten Ämter des Landes ausüben kann. Es ist noch gar nicht so lange her, da zog er die Spritpreisbremse aus dem Hut. Wer nur einigermaßen klar bei Verstand war, wusste, dass dieses Ding ein Rohrkrepierer werden musste. Aber durchgezogen wurde es trotzdem. Weil es das ideale Werkzeug war, mit dem die Ölkonzerne – trotz internationaler Energiekrise – ihren Umsatz halten oder sogar steigern konnten. Dass das auf dem Rücken der 80 Millionen Menschen geschah, die Lindner eigentlich vertreten sollte und die sich in der damaligen Situation gerade ernsthaft fragten, ob sie sich ihre Heizung noch würden leisten können, war ihm vollkommen egal. Bei der Bundestagswahl 2021 holte die FDP die viertmeisten Stimmen. In Sachen Parteispenden war sie aber die Nummer 1. Großspender unter anderem Mineralölkonzerne, der Autovermieter Sixt und der Glückspielautomatenhersteller Löwen Entertainment – was für eine nette Gesellschaft. 

Das Rückgrat eines Mehlwurms
Dass, was an Lindner aber am unangenehmsten ist, ist seine konstante Weigerung, Verantwortung zu tragen. Was in der momentan Phase bedeutet hätte, sich vor die Presse zu stellen und zuzugeben, dass man einen Bock geschossen hat. Aber genau das hat Lindner nicht getan. Nachdem er zunächst eher erfolglos versucht hat, das Desaster irgendwie noch der Vorgängerregierung in die Schuhe zu schieben und damit glorreich gescheitert ist, hat er in allen Statements zum Thema Nachtragshaushalt nie von „wir“ oder „uns“ gesprochen und schon mal gar nicht hat er „ich“ gesagt. Linder hat den Schwarzen Peter „der Bundesregierung“ zugeschoben. „Die Bundesregierung“ habe die Risiken falsch eingeschätzt. „Die Bundesregierung“ müsse nun ein Problem lösen. Und um dem allen noch die Krone aufzusetzen, hat Lindner, nachdem er seinen Finanzstaatssekretär öffentlichkeitswirksam vor den Bus geschubst hatte, auf der FDP-Homepage ein Statement veröffentlichen lassen, in dem er das Urteil, das seine nicht vorhandene Sachkompetenz so glasklar zutage gefördert und seinen Nachtragshaushalt zerpflückt hat, begrüßt, weil es die Schuldenbremse bestätigt und ein klares Zeichen für eine verantwortungsvolle Finanzpolitik gesetzt habe.  

Das Haushaltsdesaster ist nicht entstanden, weil man handwerkliche Fehler gemacht oder die Risiken falsch eingeschätzt hat. Es ist entstanden, weil zu diesem Zeitpunkt drei Menschen das Sagen hatten, deren Charakterzüge schlechter für eine Demokratie nicht sein können: Arroganz, Ahnungs- und Skrupellosigkeit. Eine höchst bedenkliche Mischung. Inzwischen wissen wir: Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts war historisch. Noch nie seit Bestehen der Bundesrepublik wurde ein Haushalt für nicht verfassungskonform erklärt. Noch etwas ist seit 1945 noch nie passiert: Vorzeitige Neuwahlen aufgrund von Regierungsauflösung. Aber - irgendwann ist immer das erste Mal.

 

Differenzierung bitte

Die Gesichter der Antisemitismus

09.11.2023 

Es kam damals natürlich nicht „von ungefähr“, dass die Hauptsynagoge der israelischen Kultusgemeinde München an einem 9. November eingeweiht wurde. 2006 – also auf den Tag genau 68 Jahre nach der sogenannten „Reichskristallnacht“ – wollten jüdische und nicht-jüdische Würdenträger ein Zeichen setzen. Die Festrede hielt damals der 2020 verstorbene Hans-Jochen Vogel, der nicht nur Regierender Bürgermeister von Berlin, sondern von 1960 bis 1972 auch Oberbürgermeister der bayerischen Landeshauptstadt gewesen war. In dieser Zeit hatte sich Vogel besonders um die jüdische Gemeinde verdient gemacht. Vogel hielt seine Rede in einer Zeit, in der die meisten Menschen in Deutschland – auch die langjährige Vorsitzende des Zentralrats der Juden in Deutschland, Charlotte Knobloch – dachten, Antisemitismus in Deutschland gehöre endgültig der Vergangenheit an. Nur 17 Jahre später aber muss der Vize-Kanzler der Bundesrepublik Deutschland vor die Kameras treten und einen eindringlichen Appell an deren Bürger richten, Antisemitismus die Stirn zu bieten. 

Feiglinge im Schutz der Menge
In seinem zurecht hochgelobten und viel beachteten Videostatement hat Robert Habeck sehr viel Richtiges gesagt. Unter anderem, dass es in Deutschland das Recht auf freie Meinungsäußerung gibt. Aber eben auch, dass gewisse Äußerungen, die in anderen Ländern straffrei bleiben und höchstens moralisch verurteilt werden, hierzulande einen Rechtsbruch darstellen. Und dazu gehört – aus gutem Grund – die Verbreitung jeglicher Art von Judenhass. Wen Habeck damit gemeint hat, ist klar: Den Pöbel, der einen Tag nach der bestialischen Attacke vom 07. Oktober mitten in Berlin „zur Feier des Tages“ Süßigkeiten verschenkt hat. Die Feiglinge, die sich in einer Demonstration Pro-Palästinena verstecken und dann mit antisemitischen Parolen wie „from the river tot he sea“ oder sogar einer „Endlösung“ nichts weniger fordern als einen Genozid an Juden. Für all diese muss genau das gelten, was Habeck in seiner Ansprache gerne noch etwas strikter hätte formulieren dürfen: Wer Deutscher ist, muss die volle Härte des Gesetzes spüren. Wer kein Deutscher ist, muss dieses Land verlassen. Wer einen Aufenthaltstitel beantragt hat, dessen Antrag muss abgelehnt werden. Habeck hat aber auch zur Differenzierung aufgerufen. Und genau das ist in einer emotional so aufgeheizten Situation bitter nötig.

Die Quittung für's Wegsehen
Dazu gehört zum Beispiel, dass der Hass gegen Israel und Menschen jüdischen Glaubens, den wir da während Demonstrationen in Berlin, Essen oder Frankfurt sehen – so abstrus das auch zunächst klingen mag – nicht in erster Linie ein Antisemitismus-Problem ist. Er ist das Ergebnis einer komplett verfehlten Migrationspolitik. So etwas entwickelt sich nur, wenn man als Verantwortlicher jahrzehntelang nicht anerkennen will, dass das eigene Land ein Einwanderungsland ist und man sich aufgrund dieser Realitätsverweigerung nie um ein wirkliches Konzept zur Integration anderer Kulturen und Lebenswirklichkeiten bemüht. Diese Demonstrationen sind das Ergebnis eines strukturellen, jahrzenhntelangen Wegsehens. Nur so können in einer Gesellschaft Subkulturen entstehen. Nur so kann ein aus dem Ausland finanzierter Verein, der sich bis zum heutigen Tag nicht klar von dem Massaker der Hamas am 07. Oktober distanziert hat, die Deutungshoheit über das Denken vieler muslimischer Menschen in Deutschland erlangen. Und nur so erkennt man die Gefahr nicht, die besteht, wenn Menschen hierher kommen, denen bereits in der Schule täglich die Vernichtung Israels in die Köpfe gehämmert wurde. Der Mob, der auf Pro-Palästina-Demonstrationen Antisemitismus verbreitet, tut das nicht, weil er trotz seiner Sozialisation Judenhass in sich trägt, sondern aufgrund seiner Sozialisation.

Automatismen statt Aufklärung
Zur Differenzierung gehört auch, dass man in der medialen Berichterstattung nicht dem üblichen Beißreflex erliegen sollte – also nicht auf die „stärksten“ und damit grausamsten Bilder setzt, sondern auf Aufklärung. Dass man das tut, was die eigentliche Aufgabe dieses Jobs ist: Das Runterbrechen und Verständlichmachen von komplexen Themen. Dass es zur menschenverachtenden und perfiden Strategie der Hamas gehört, die eigenen Bürger als menschliche Schutzschilder zu verwenden. Nicht, weil man hofft, selbst nicht getroffen zu werden, sondern weil man exakt die grausamen Bilder produzieren will, die uns alle bis ins Mark erschüttern und die die öffentliche Meinung gegen Israel beeinflussen sollen. Oder dass weder die Hamas noch die Hisbollah im Norden Israels so schlagkräftig wären, würde sie der Iran nicht mit russischen Waffen versorgen. Der Iran, dem das Annäherungsabkommen zwischen Israel und Saudi-Arabien, das in diesem Jahr gewaltige Fortschritte machte, ein Dorn im Auge ist. Der Iran, der einer der engsten Partner Putins ist, dem wiederum eine „Ablenkung“ vom Ukraine-Krieg gerade recht kommt. Doch anstatt das alles einzuordnen und zu differenzieren, nehmen deutsche Medien mehrheitlich zugunsten ihrer Berichterstattung billigend in Kauf, mit jedem noch so beklagenswerten zivilen Opfer der israelischen Angriffe auf Gaza, mit jedem verletzten oder toten Kind und jeder weinenden Mutter, die wir sehen, Wasser auf die Mühlen der perversen Strategie der Terroristen zu schütten.

"Nur" ein Nebensatz 
Und zu differenzieren bedeutet, genau hinzusehen. Denn Antisemitismus ist nicht immer laut und kommt nur von Menschen, die in diesem Hass erzogen wurden. Er beginnt da, wo ein Jugendidol wie Greta Thunberg wiederholt mit zumindest komplett unreflektierten Pro-Gaza Posts den Boden für undifferenziertes Denken bereitet. Posts, die dann doch eindeutig genug waren, so dass sich Fridays For Future Deutschland von ihr distanziert hat. Er geht da weiter, wo Deutschlands „Erklärer Nummer 1“, Richard David Precht, im Podcast „Lanz & Precht“ in einem Nebensatz behauptet, ultra-orthodoxen Juden verbiete ihr Glauben, weltliche Arbeit zu verrichten, was nicht nur sachlich komplett falsch ist. Er greift darüber hinaus noch en passant ganz tief in die antisemitische Stereotypen-Kiste und ergänzt, Menschen dieses Glaubens dürften nur "ein paar Sachen, wie Diamanthandel und ein paar Finanzgeschäfte“ betreiben. Und er endet bei Markus Lanz selbst und seiner Redaktion, die diese Äußerung einfach so haben durchlaufen lassen. Sind Thunberg, Precht und Lanz deshalb Antisemiten? Wahrscheinlich wohl eher nicht. Sind ihre Äußerungen antisemitisch? Auf jeden Fall. Nicht nur, weil sie – wie in Prechts Fall – dumpfe und nicht-zutreffende Stereotype bedienen. Sondern weil sie denen den Weg bereiten, die es nicht bei Worten belassen. Zum Beispiel denen, die durch Städte laufen und Häuser, in denen Juden leben, mit dem Davidstern „markieren“.

Salonfähig gefährlich
Ich habe durch meinen Beruf einige Interviews mit Holocaust-Überlebenden geführt. Ester Bejarano, Hugo Höllenreiner, Margot Friedländer, Max Mannheimer. So unterschiedlich ihre Geschichten und Persönlichkeiten auch waren, sie alle hatten zwei wesentliche Botschaften: Sie sahen keinen Grund für die deutsche Nachkriegsgenerationen, eine Art von Erbschuld zu tragen. Wie soll man die Schuld an etwas haben, was geschehen ist, bevor man geboren wurde? Aber sie sahen eine Verantwortung, die alle Deutschen seit dem Ende der Shoah tragen: Die Verantwortung dafür, sich jeder Art von Antisemitismus entgegenzustellen. Und zwar eben schon dann, wenn Dinge, „so dahingesagt“ werden. Das bedeutet heute, sich klar zu distanzieren und - wenn möglich - einzuschreiten wenn Statements gepostet werden, die den Terrorangriff der Hamas nicht eindeutig und ohne Einschränkung verurteilen oder wenn Diskussionsbeiträge zu diesem Terrorangriff mit den Worten „Ja, aber…“ beginnen. Die Katastrophe im 3. Reich hat sich nicht ereignet, weil die Deutschen über Nacht mit der Wahl der NSDAP alle zu harten Antisemiten wurden. Auslöser waren nicht die Aufmärsche der SA oder die Fackelzüge der SS. Der Nährboden für die größte menschliche Katastrophe des 20. Jahrhunderts war der Umstand, dass Antisemitismus „salonfähig“ war. „Das hat er nur so dahingesagt…“, „So ganz falsch ist es ja nicht…“, „Die sind doch selber schuld…“

Ganz im Sinne des Faschisten 
Im Landkreis Stendal in Sachsen-Anhalt – das Bundesland, dessen AFD-Verband als „gesichert rechtsextremistisch“ gilt – liegt die Kleinstadt Tangerhütte. Rund 11.000 Einwohner – irgendwo in der Mitte zwischen Stendal und Magdeburg. Vor kurzem stellte hier eine KiTa beim Stadtrat den Antrag auf Umbenennung, der von diesem aber abgelehnt wurde. Gemeinsam mit der Elternvertretung hatte man entschieden, dass man den alten Namen nicht mehr wolle. Man wolle lieber „Weltentdecker“ heißen, statt – wie bisher – „Anne-Frank-KiTa“. Begründet wurde das Ganze damit, dass die KiTa sich konzeptionell neu aufstellen wolle und der Name dann nicht mehr passe. Der aktuelle Name und die Geschichte des Holocaust-Opfers an sich wäre – laut Leiterin der Kita – für kleine Kinder nur schwer zu fassen. Auch könnten Migranten mit dem Namen nichts anfangen. Mal ganz abgesehen davon, dass der Ausländer-Anteil im gesamten Landkreis Stendal bei rund 4,0% liegt und er damit in diesem Bereich zu den „Schlusslichtern“ aller Landkreise in Deutschland gehört, wäre an dieser Stelle durchaus interessant zu wissen, wie oft die Erzieherinnen wirklich vor der Situation standen, den Kindern erklären zu müssen, wer Anne Frank war. Oder ob es dann doch eher die Eltern waren, denen der Name nicht passte. Das wäre dann – ganz im Sinne des Faschisten Bernd Höcke – ein Ende des „irren Schuldkults“ und eine „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“.

 

Die Zukunft ist dann mal rechts

Wenn die Lernkurve von Parteien eine Gerade ist

11.10.2023 

Alice Weidel sitzt einen Tag nach den Landtagswahlen in Hessen und Bayern vor den Reportern und zieht ihr Fazit. Wer geglaubt hatte, die AfD-Chefin würde nun eimerweise Häme über der politischen Konkurrenz ausschütten oder sich in irgendwelche Siegerposen werfen, der wurde enttäuscht. Wobei – „Häme-Potenzial“ hätte es nach diesen Wahlen durchaus gegeben. Immerhin stellt die AfD mit Hessen das erste Mal in ihrer Parteigeschichte in einem westdeutschen Bundesland die zweitstärkste Kraft und kann in einer Zeit, in der alle anderen unter Mitgliederschwund leiden, außerdem noch einen Mitglieder-Rekord von über 35.000 vermelden. Gemessen daran fertigt Weidel das Thema „Landtagswahlen in Hessen und Bayern“ fast schon emotionslos ab. Natürlich nicht ohne verbalen Seitenhieb gegen den Bundeskanzler, als sie den Erfolg in beiden Wahlen einen „Doppelwumms“ nennt. Und sicherlich mussten 60% der anwesenden Journalisten anschließend erst mal das Wort „ubiquitär“ googeln. Aber ansonsten bedankte sich Weidel bei den freiwilligen Helfern und analysierte die Ergebnisse des Wahlsonntags aus ihrer Sicht. Fertig. Das klare Zeichen „Ein Sieg, aber für die AfD nur ein Etappensieg. Es gibt Wichtigeres.“ Auch wenn es mir persönlich noch so schwer fällt, es auszusprechen: Damit ist Alice Weidel die einzige aus der Berliner Politik, die sich nach den Wahlen wie ein Polit-Profi verhalten hat. Die anderen zeigten währenddessen, dass sie scheinbar mit den Ergebnissen entweder vollkommen überfordert waren oder – noch schlimmer – final für sich festgestellt haben, dass sie den Rechten nichts entgegenzusetzen haben.

Nur so ein Gedanke
Für das, was jetzt kommt, braucht man ein wenig Fantasie, aber nehmen wir doch mal an, nach dem Doppeldebakel am Wochenende – und nichts anderes war es – wäre Folgendes passiert: Die CDU, die CSU, die SPD, die Grünen und die FDP hätten kurz nach der ersten Hochrechnung zu einer gemeinsamen Pressekonferenz eingeladen. Auf dem Podium: Merz, Söder, Eskens, Nouripour, Lindner. Die Botschaft: Besondere Ereignisse erfordern besondere Maßnahmen. Die klare Ansage: „Wir haben hier ein veritables Problem, das wir alle gemeinsam ganz dringend bearbeiten müssen. Dieses Land rückt gerade in eine Richtung, die wir für gefährlich halten. Deshalb legen wir mit dem heutigen Tage alle unser Parteibuch in die Schublade und zeigen unseren Wählerinnen und Wählern, dass wir nicht nur reden, sondern auch handeln können und dass wir sie verstanden haben.“ Anschließend wird ein 10 Punkte-Plan aus der Tasche gezogen, der zumindest Lösungsansätze für die drängendsten Probleme dieses Landes beinhaltet. Zuwanderung, Energiekosten, etc… Wie gesagt: Ein Gedankenspiel, das Fantasie benötigt. Aber was wäre das für eine Reaktion gewesen. Eine, die man sogar hätte vorbereiten können, da die Frage schon seit Wochen nicht mehr war, ob die AfD dazugewinnen würde, sondern in welchem Maße. Und es wäre allemal besser gewesen, als das, was die arrivierten Parteien stattdessen geboten haben.  

Same procedure as...
Die CDU feierte sich selbst nicht nur für ihren hessischen Wahlsieger, der ihr fast 8 % mehr gebracht hat als bei der letzten Wahl. Sie feierte sich vor allem mal dafür, dass die Regierung in „historischer Weise“ abgestraft wurde, was an diesem Abend außer der CDU niemanden wirklich interessierte. Die CSU und die Freien Wähler lieferten sich beim Verteilen des Bärenfells noch am Wahlabend die erste Schlammschlacht auf Kindegartenniveau, bei der Hubert Aiwanger Markus Söder vorwarf, er stelle sich „mädchenhaft“ an, worauf der Ministerpräsident des größten deutschen Bundeslandes ernsthaft antwortete, Aiwangers Verhalten sei ihm zu pubertär. Kevin Kühnert versuchte währenddessen der Öffentlichkeit irgendwie zu erklären, warum jemand, der der Hessen-SPD ihr historisch schlechtestes Ergebnis beschert hat, die Idealbesetzung für die Bundesinnenministerin ist und Grüne und FDP machten exakt da weiter, wo sie kurz vorher aufgehört hatten: Sie schoben dem jeweils anderen die Verantwortung für das eigene Versagen in die Schuhe. Außer in Nebensätzen wie „wir sehen das mit Sorge“ hat niemand das Problem AfD überhaupt adressiert. Und wenn, dann immer mit diesem abfälligen „Protestpartei“-Blick.

Protest- und Volkspartei
Zwar wehrt sich die braune Truppe – und hier besonders ihre Parteichefin – immer wieder gegen dieses Attribut, aber spätestens seit den Landtagswahlen kann sie das eigentlich nicht mehr. Laut infratest dimap gaben 87% der hessischen AfD-Wähler an, die Partei gewählt zu haben, weil sie die einzige sei, mit der sie ihren Protest gegenüber der Politik ausdrücken können. In Bayern waren es immer hin noch 80%, die das sagten. Und auch die anderen Themen, weswegen die Menschen ihr Kreuz rechts außen gemacht haben, sprechen eine deutliche Sprache: „Hat besser als andere Parteien verstanden, dass sich die Menschen nicht mehr sicher fühlen.“ war genauso unter den Top 5 der Antworten, wie: „Ich wähle AfD, damit die Regierung in der Asylpolitik ihren Kurs ändert.“ Wenn das nicht für eine Protestpartei spricht, was dann? Aber die AfD ist noch etwas anders – etwas, das bis jetzt in noch keiner Berliner Parteizentrale laut ausgesprochen wird: Sie ist inzwischen eine Volkspartei. Menschen aus den verschiedensten Schichten, mit den verschiedensten Bildungshintergründen und Einkommensstrukturen in ganz Deutschland wählen diese Partei. Weil sie es hervorragend versteht, die Ängste der Menschen zu triggern. Und es gibt kaum einen besseren emotionalen Klebstoff als Angst.

Über alle Grenzen hinweg
Laut Bundeszentrale für politische Bildung bezeichnet man als Volkspartei eine Partei, die „Anhänger/innen in allen Gruppen und Schichten der Bevölkerung hat.“ und deren Ziel es ist, „möglichst breite Wählerschichten zu erreichen, um dann eine Regierung bilden zu können.“ Von „Lösungen bieten müssen“ oder „keine Faschisten in ihren Reihen haben dürfen“ steht da nichts. Und diese Vorgaben erfüllt die AfD im Schlaf. Die besten Ergebnisse holte sie in beiden Bundesländern bei den Männern zwischen 35 und 44 Jahren, die in Kleinstädten leben. In Bayern waren das 17,7% in Hessen sogar 23,0%. Am schlechtesten schnitt sie bei Frauen über 70 Jahren in Großstädten ab. Und am schlechtesten bedeutet in diesem Fall: In Bayern 9,7% und in Hessen 10,7%. Nur zur Erinnerung: Die „Volkspartei“ SPD wurde von der AfD in beiden Ländern auf die Plätze verwiesen und die Regierungspartei FDP hat es gerade einmal so in den Wiesbadener Landtag geschafft, aus dem Maximilianeum ist sie nach 5 Jahren Intermezzo im hohen Bogen rausgeflogen.

Verlernt zu agieren
Das Nichtstun der anderen Parteien angesichts des eigenen Abgleitens in die Bedeutungslosigkeit darf aber eigentlich nicht wundern. Die letzte große, spürbare Reform, bei der eine Partei und deren Köpfe die eigenen Bedürfnisse – also die Wiederwahl – hinter die des Landes gestellt haben, ist schon eine Weile her. Gerhard Schröder versetzte mit der Agenda 2010 und der Einführung von Hartz IV seiner eigenen Partei einen Schlag, von dem sie sich bis heute nicht richtig erholt hat. Aber ohne diese Reform wäre Deutschland – damals auch „das Armenhaus Europas“ genannt – wirtschaftlich mit einer solchen Wucht an die Wand gefahren, dass wir heute ganz andere Probleme hätten und uns unsere jetzigen wünschen würden. Damals, im Jahr 2003, war Philipp Amthor 10 und Ricarda Lang 9 Jahre alt, Friedrich Merz war frisch von Angela Merkel aus der Fraktion gebissen worden und Robert Habeck war gerade mal ein Jahr Mitglied bei den Grünen. All diese Menschen sind in einer politischen Kultur groß geworden, in der meist „warme Worte“ und vorgespielter Aktionismus genügt haben, um die Menschen zu beruhigen und von der eigenen Politik zu überzeugen. Man konnte mit „Ihre Spareinlagen sind sicher“ den Sturm auf Banken verhindern und mit „Sie kennen mich“ Bundestagswahlen gewinnen. 

Der Einäugige
Ein Treppenwitz der Geschichte ist natürlich, dass ausgerechnet warme Worte es waren, die der AfD 2015 die entscheidende Initialzündung gaben: „Wir schaffen das“. Warme Worte haben funktioniert, weil es dem Land und seinen Bürgern wirtschaftlich gut ging. Sie funktionieren aber nicht mehr, wenn vor dem Hintergrund von Krieg und Zerstörung die Preise explodieren und schon die Finanzierung des Alltags eine Herausforderung ist. Wenn die Menschen Angst vor Überfremdung haben und gefühlt jede Woche eine anderes deutsches Großunternehmen Stellenstreichungen ankündigt. Genau dann brauchen die Menschen eine Politik, die sie dort abholt, wo sie sind. Die sie nicht gängelt, die ihnen nicht erklärt, was politisch korrekt ist oder eine Kaskade an leeren Phrasen über ihnen ausschüttet. Sie brauchen Politik, die versteht und agiert und nicht nur Verständnis formuliert und Arbeitskreise bildet. Und wer das nicht leisten kann oder will, der wird gegen die verlieren, die in diesem Rennen die Einäugigen unter den Blinden sind, indem sie sich einfach neben die Menschen stellen und ihnen recht geben, wenn sie auf „die da oben“ schimpfen. 

Der Nachwuchs wählt
Kurz vor den Landtagswahlen wurden an den weiterführenden Schulen in Bayern und Hessen die sogenannten „Juniorwahlen“ durchgeführt. Schüler der 9ten und 10ten Klassen aller weiterführenden Schulen probten sozusagen den „Ernstfall“ und hatten die Möglichkeit, zu wählen. Original-Stimmzettel, Wahlkabine, Wahlurne – alles wie bei den Erwachsenen. In Bayern kam die AfD bei den 13 bis 16jährigen auf 12,2%, in Hessen auf 13%. Großer Verlierer in beiden Ländern in ausgerechnet dieser Altersgruppe: Die Grünen. Die Saat ist also schon aufgegangen. Und so bleibt den letzten politischen Idealisten nur noch, auf ein Wunder zu hoffen. Wie etwa eine gemeinsame Aktion aller demokratischen Parteien, die ihre eigenen Bedürfnisse hinter die der Bürger stellen und das Parteibuch in die Schublade packen. Aber wir können davon ausgehen, dass das nicht passieren wird. Und deshalb wird ausgerechnet in dem Jahr, in dem die Bundesrepublik ihr 75jähriges Bestehen feiert, nach dem 1. September 2024 der erste Ministerpräsident seit Bestehen dieses Landes eine Staatskanzlei übernehmen, den man laut Gerichtsurteil straffrei einen Faschisten nennen darf.

Und warum?

Das "Sieger-Gen" des Populisten

06.10.2023 

Der Rauch auf dem Schlachtfeld der öffentlichen Empörung hat sich verzogen. Das Ins-Fäustchen-Lachen der AfD verhallt so langsam, die Jubelstürme "besorgter Bürger" werden leiser und die Fraktion der Aufgebrachten bekommt beim Namen Friedrich Merz kein Schleudertrauma mehr vom Kopfschütteln. Der Sturm ebbt ab. Und wie schon die letzten Male nach einem populistischen Ausrutscher des CDU-Vorsitzenden, so fehlt in der medialen Nachbetrachtung eine Frage, die sich aber inzwischen mit Macht in den Fokus rückt: „Warum?“ Warum bedient dieser Mann mit all seiner politischen Erfahrung und einem Intelligenzquotienten, der definitiv oberhalb von 8 Metern Feldweg liegt, in schöner Regelmäßigkeit rassistische Ressentiments? Warum glaubt der Chef der größten Volkspartei in Deutschland es nötig zu haben, so ostentativ am rechten Rand zu fischen? Was will er damit bezwecken? Denn was Merz immer wieder tut, richtet auf drei Ebenen Schaden an. Das muss ihm klar sein. Und dennoch tut er es.

Zahlen sind Zahlen sind Zahlen
Zunächst mal schadet Merz sich selbst. Denn eigentlich hat er mit seiner Kritik am deutschen Asylrecht recht. Dieses System ist mit „unausgegoren“ noch sehr freundlich umschrieben. Wie alle anderen dringenden Reformen, wurde auch die des Zuwanderungs- und Asylrechts während 16 Jahren Merkel entweder auf die lange Bank geschoben oder ist auf „Nimmerwiedersehen“ in einem Arbeitskreis verschwunden. Und so wie uns nacheinander die fehlende Digitalisierung, unser Rentensystem, unser Bildungssystem oder unser Gesundheitssystem um die Ohren fliegen, tut es das Asylrecht eben auch. Die Zahlen die Merz da in die Mitte wirft, sind nicht belegbar. In keiner offiziellen Statistik tauchen 300.000 abgelehnte Asylbewerber auf, die sich aktuell immer noch in Deutschland befinden. Aber das müssen sie auch gar nicht. Laut „BAMF“ wurden von Januar bis August 2023 insgesamt 175.414 Asylanträge bearbeitet. Davon haben 30.621 (17,4%) den Status eines Asylberechtigten oder eines Flüchtlings nach Artikel 16a GG bzw. §3 AsylG zugesprochen bekommen. Eindeutig abgelehnt wurden 37.754 Anträge (21,5%). Die übrigen 107.039 (61,1%) haben das Land aber nicht wieder verlassen. Entweder, weil sie sogenannten „subsidiären Schutz“ erhalten, da sie in ihrem Heimatland um Leib und Leben fürchten müssen oder, weil ihnen aufgrund eines von ihnen verübten Verbrechen die Todesstrafe droht oder weil eine Schwangerschaft besteht oder weil es sich - Achtung - um "formelle Entscheidungen" handelt. Was bedeutet, dass der Antrag der Betreffenden eigentlich in einem anderen EU-Land bereits bearbeitet wird, sie aber dennoch hier sind.  

Der verschobene Fokus
Legt man nun noch zugrunde, dass rund 66% aller Abschiebungen aus den verschiedensten Gründen scheitern, verlassen von den 175.414 Menschen, die die ersten acht Monate des Jahres 2023 hierhergekommen sind, rein statistisch nur rund 12.000 wieder das Land. 163.414 bleiben aus den unterschiedlichsten Gründen hier. Hier eine Reform oder strengere Regeln zu fordern, hat nichts mit Fremdenfeindlichkeit oder Herzlosigkeit zu tun. Es ist einfache Mathematik, hinter der die gleiche Logik steht, mit der Robert Habeck im Frühjahr 2022 den Umstand erklärt hat, warum Deutschland weiterhin russisches Gas bezogen hat: Ein Land, das selbst in Schieflage gerät, kann gar nicht mehr helfen. Auch nicht denen, die diese Hilfe dringend benötigen. Diese Diskussion kann aber nur auf Basis von Fakten und Zahlen geführt werden. Merz‘ Stammtisch-Ausbrüche schieben den Fokus vom eigentlichen Thema in eine komplett falsche und wenig hilfreiche Ecke und disqualifizieren ihn als ernstzunehmenden Gesprächspartner. Er gibt seinem politischen Gegner eine Steilvorlage, indem er exakt den Ton anschlägt, den man zur Genüge von der AfD – wie etwa der berüchtigten Rede von Alice Weidel über die "alimentierten Messermänner" - kennt. Auch hier ging es um Zuwanderung und Kritik am System und auch hier wurden diejenigen, die eigentlich nur das bestehende Recht nutzen, als Verursacher des Problems vor den populistischen Bus geschubst, um Ressentiments zu schüren.

Die Fabel von der Schwächung der AfD
Merz schadet aber nicht nur sich selbst mit diesen Äußerungen. Er untergräbt auch aktiv das Ziel, das er selbst 2018 einmal ausgegeben hatte: Die Halbierung der AfD. Denn es ist ja nicht das erste Mal, dass er populistisch ausfällig wird. Im Januar 2023 bezeichnete er bei Markus Lanz pauschal unter dem Eindruck der Berliner Silvesternacht alle arabisch-stämmigen männlichen Kinder als „kleine Paschas“, im August riss er im ZDF-Sommerinterview die Brandmauer zur AfD, die er selbst gezogen hatte, wieder ein und im „WeltTalk“ kam er mit seiner Zahnarzt-Posse um die rechte Ecke. Würden diese Aussagen wirklich zu einer Schwächung der AfD führen, wäre es eine zwar unschöne, aber wirksame politische Strategie mit der Botschaft an die vernünftigen rechts-konservativen Wähler: „Das, was du bei der AfD suchst, bekommst Du auch hier - aber ohne Faschisten wie Höcke.“ Aber genau das passiert ja eben nicht. Im Dezember 2022 lag die CDU im „Deutschlandtrend“ bei 30%, die AfD bei 15%. Aktuell erreicht die CDU 28%, die AfD 22%. Merz weiß also, dass das nicht der richtige Weg sein kann, der AfD Wähler abzuluchsen, zückt aber dennoch in schöner Regelmäßigkeit die Populismus-Keule.  

First Movers
Warum die Menschen sich im Zweifelsfall immer für die AfD entscheiden werden, hat einen einfachen, psychologischen Grund, den man aus dem Marketing kennt. Hier nennt man Unternehmen, die Pionierarbeit leisten und ein Produkt erfolgreich mit der richtigen Mischung aus Timing, Vision, Knowhow, Mut und Glück auf den Markt bringen, „First Movers“. Sie haben gegenüber allen späteren Konkurrenten einen Vorteil, den man mit keinem Werbe-Budget dieser Welt kaufen kann: Sie sind das Original. Sie branden die Köpfe der Konsumenten. Und wenn sie keine Fehler machen, wird das auch immer so sein. An was denkt der Deutsche bei den Begriffen „Fast Food“, „Erfrischungsgetränk“, „Papiertaschentuch“ und „Gummibärchen“? Richtig: McDonald’s, Coca Cola, Tempo und Haribo. Und egal, ob die Konkurrenz günstiger oder sogar besser ist – die „First Movers“ sind die Nummer 1. Nicht umsonst heißen die Top 5 der wertvollsten Marken der Welt: Apple, Google, Microsoft, Amazon und McDonald’s. Nun sollte man die AfD auf keinen Fall mit Begriffen wie Mut oder Knowhow und schon mal gar nicht mit Vision in einem Satz nennen – außer man definiert „dagegen sein“ als Vision – aber das richtige Timing kann man ihr nicht absprechen. Sie stieß zum richtigen Zeitpunkt in die rechte Flanke, die Merkel durch das Egalisieren ihrer eigenen Partei geöffnet hatte. Deshalb ist die AfD der „First Mover“ wenn es darum geht, Ressentiments gegen Migranten zu schüren. Und genauso wenig wie Burger King, Pepsi, Softis und Trollis den jeweiligen Platzhirschen die Vormachtstellung entreißen werden, wird dies die CDU bei der AfD tun. 

Gespaltene Ansichten
Merz Verhalten füttert aber nicht nur die AfD. Es schwächt auch die CDU. Die ist nun mal eine Volkspartei und hat nicht nur ein rechts-konservatives Spektrum, sondern auch ein eher liberales, links-konservatives. Und genau dieses verprellt der Parteichef. Außerdem bekommt er inzwischen auch innerparteilich so langsam ein Problem. Für seine „Paschas“-Nummer im Januar erhielt er noch eher verhaltene Kritik aus den eigenen Reihen. Und denen, die ihn kritisiert haben – allen voran Daniel Günther und Hendrik Wüst – konnte man zumindest nachsagen, sie würden die Möglichkeit sehen, an Merz‘ Stuhl zu sägen, auf dem sie gerne selbst sitzen würden. Nach seiner Zahnarzt-Entgleisung aber melden sich auch die, die nicht im Verdacht stehen, Ambitionen auf Merz‘ Posten haben. So wird der CDU-Sozialflügel in Person seines Vizechefs Christian Bäumler sehr deutlich. Nicht nur kritisiert er Merz‘ Äußerung. Er greift zu einer wirklich drastischen Maßnahme, die in der Berichterstattung ein wenig untergegangen ist: Er stellt dem Vorsitzenden ein Ultimatum. Entweder Merz nimmt die Äußerung zurück oder er verzichtet jetzt schon auf eine künftige Kanzlerkandidatur. Merz stärkt die CDU durch seine Äußerungen nicht, er spaltet sie.

Dreimal komplett sinnlos
Fassen wir das Ganze also zusammen: Merz unterminiert mit solchen Äußerungen sich selbst als ernsthaften Gesprächspartner, stärkt die AfD und schwächt seine eigene Partei. Und da wir hier ja nicht von „einmaligen Ausrutschern“ sprechen, sondern von einem wiederkehrenden Muster, muss ihm inzwischen klar sein, dass sein Populismus genau diese Effekte hat. Wenn man dann zu seinen Gunsten voraussetzt, dass er nicht von der AfD in die CDU eingeschleust wurde, bleibt eigentlich nur noch eine Antwort auf die Frage nach dem „Warum?“ und die stammt aus der Kommunikations-Psychologie:

Er kann nicht anders
Auffällig ist, dass Merz‘ Entgleisungen immer mit bestimmten Gesprächs-Situationen zusammenfallen. Er erlaubt sich diese Ausrutscher weder bei Reden im Bundestag, noch auf offiziellen Veranstaltungen und noch nicht mal auf Parteitagen. Merz entgleist nur dann, wenn er sich in der direkten Konfrontation mit einem oder mehreren Personen befindet. Ein Interview mit harten Fragen, eine Talkshow mit dem ewig nachbohrenden Markus Lanz, eine Diskussionsrunde mit politischen Gegnern. Gerade bei sogenannten „Alphatieren“ kann man hier immer wieder ein Verhaltensmuster beobachten, dass die Amerikaner als „dishonest argumentation“ bezeichnen. Immer dann, wenn diese Menschen nicht nur senden, sondern auch empfangen und wissen, dass die Antwort Substanz haben muss, weil sie dem Gegenüber sonst Munition liefern, verschiebt sich das Ziel des Gesprächs. Es geht nicht mehr um die Sache an sich, sondern viel mehr darum, die verbale Auseinandersetzung zu „gewinnen“. Es geht nicht um eine Lösungssuche und den Austausch von Argumenten, sondern darum, die Lufthoheit über das Thema erobern und die Situation dann als vermeintlicher Sieger zu verlassen. Dem anderen zu zeigen, dass man besser und stärker ist. Wenn man so will: Das verbale Trommeln auf die Brust. Menschen, die so agieren, pfeifen auch in diesem Moment darauf, welche Auswirkungen das von ihnen Gesagte später haben kann. Ob ihre Ausführungen jemanden verletzen, ob sie Behauptungen aufstellen, die nicht belegbar sind, intern Schaden anrichten oder ob das, was sie sagen evtl. noch nicht mal der eigenen Überzeugung entspricht. Alles egal. Es geht im Endeffekt um die persönliche Eitelkeit, den persönlichen Sieg. Tragisch einfach und einfach tragisch.

"Und warum? Nur für den Kick, für den Augenblick?"

(Tic Tac Toe, 1997)


 

Wertegeleitet oder selbstverliebt?

Wenn eine Außenministerin selbst ihr größter Fan ist

23.09.2023 

Die Frankfurter Rundschau hat sich bis jetzt nicht gerade ein großer Fan von Annalena Baerbock im Allgemeinen gezeigt, einer ihrer Redakteure zollte ihr aber Respekt, was ihren Umgang mit China angeht. Während die deutsche Außenministerin sowohl von politischer Seite als auch in der veröffentlichten Meinung ziemlich einstecken musste, nachdem sie den chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping in einem Interview zum Ukrainekrieg mit dem ultrakonservativen US-Sender FOX einen „Diktator“ genannt hatte, meint Michael Hesse in seinem Rundschau-Kommentar, Baerbock halte das, was sie versprochen habe: Sie verfolge eine wertegeleitete Außenpolitik und diese Werte seien geprägt von Menschenrechten und demokratischen Standards. Vielleicht aber sind sie auch noch geprägt von etwas ganz anderem. 

Die Welt erklären
Denn während das diplomatische Chor des Außenministeriums die Ärmel hochkrempelte und aus vollen Kräften zurückruderte, weil die chinesische Führung natürlich die deutsche Botschfterin einbestellt hatte und verlautbaren ließ, dass sie „zutiefst unzufrieden“ mit der Äußerung Baerbocks sei, die sie als „offene, politische Provokation“ empfinde, gab diese bei Sandra Maischberger ein Interview. Sie erklärte zum einen, dass sie keinen Grund sehe, die Äußerung zurückzunehmen. Dinge müssten eben mal beim Namen genannt werden. Außerdem erläuterte sie, was sie dazu bewegt hatte, ihre Chinakritik ausgerechnet beim „Trump-Sender“ FOX unterzubringen. Und dieser Teil ist, was die Person Baerbock angeht, fast die interessantere Passage. Sie habe versucht „Menschen zu erreichen, die bisher vielleicht nicht so viel von der europäischen Diskussion zur Ukraine-Krise mitbekommen haben.“…Das lassen wir uns jetzt mal bitte auf der Zunge zergehen. Annalena Baerbock geht davon aus, dass sie mit ihrem 6-minütigen Interview im Haussender von Donald Trump das schafft, was weder die demokratische Partei der USA noch ihre politischen Vertreter noch Bürgerrechtler noch Nachbarn noch Familienangehörige in den letzten Jahren geschafft haben: Menschen, die zu großen Teilen immer noch glauben, Trump wäre ihr wirklicher Präsident, die den Sturm auf das Weiße Haus zumindest verteidigen, die die Biden-Regierung für jede an die Ukraine gelieferte Patrone als „unpatriotisch“ geißeln, die mit America first aufstehen und schlafen gehen und denen die EU sowas von am Allerwertesten vorbeiläuft, für die Europäische Sicht auf den Ukrainekrieg zu sensibilisieren. 

Aber – eigentlich darf einen das nicht wundern.

Dann doch nur Unterstützerin
Wer sich mit Baerbock auseinandersetzt, der stellt schnell eines fest: Es mangelt ihr nicht gerade an Selbstbewusstsein. An sich eine solide und gute Grundvoraussetzung für eine Bundesministerin. Problematisch wird dieser Charakterzug, wenn sich der Eindruck verstärkt, dass es ein wenig mehr als nur Selbstbewusstsein ist. Immer wieder bekommt man das Gefühl, die Ministerin findet das, was sie tut und wie sie es tut – kurz sich selbst – ein bisschen zu grandios. Oder anders: Annalena Baerbock ist ein Fan von Annalena Baerbock. Schon ihr „Lebenslaufdebakel“ vor der Bundestagswahl mit – nennen wir es mal – ungenauen Angaben zu ihrem Studium und ihren Mitgliedschaften spricht Bände. Es geht nicht darum, dass sie laut Lebenslauf an einem Tag Doktorandin und Mitglied im German Marshall Fund und dem UNHCR war und am nächsten Tag plötzlich der Zusatz „Studium nicht beendet“ steht und anstatt dem Wort Mitglied der Begriff „Unterstützerin“ zu finden ist. Der Internetcrawler „Waybackmachine“ ist darauf programmiert, weltweit Internetseiten zu archivieren. Von April 2019 bis Juni 2021 hat er nicht weniger als 70(!) verschiedene Online-Versionen des Baerbock-Lebenslaufs gefunden. Es geht darum, dass das alles nach „mehr scheinen als sein“ schmeckt. Menschen, die ein solches Verhalten an den Tag legen, haben in den meisten Fällen eines nicht, was Politiker in Baerbocks Position aber dringend brauchen: Die Fähigkeit zur Selbstkritik.

Ausgerutscht
Das könnte auch der Grund für all die verbalen Ausrutscher sein, die sie sich leistet. Das sind einerseits diese Mega-Vögel, die sie in schöner Regelmäßigkeit abschießt. Die Äußerung über den chinesischen Staatspräsidenten war ja nicht die erste dieser Art. Im Januar 2023 sagte sie während einer Fragestunde des Europarats: „…wir kämpfen einen Krieg gegen Russland und nicht gegeneinander.“ Ein Satz, der auf dem internationalen, politischen Parkett durchaus einen gewissen „Punch“ hat, auch wenn er anschließend aus Leibeskräften heruntergespielt wurde. Er hatte das Zeug dazu, Putin die Möglichkeit zu geben, die NATO als Kriegspartei zu identifizieren. Kam der Satz doch nicht von irgendwem, sondern von der deutschen Außenministerin. Aber das ist nur die eine Seite des Problems. Gemeint sind auch die vielen, wirklich vielen, Versprecher und fragwürdigen Aussagen der Annalena Baerbock, die zwar nicht so viel öffentliche Aufmerksamkeit auf sich ziehen, die in ihrer Zahl und Häufigkeit aber wirklich abenteuerlich sind.  

Napoleons Panzerschlachten
So sprach sie in einer Rede vor dem EU-Parlament von „Wasserschoft“ anstatt Wasserstoff. Bei der Münchner Sicherheitskonferenz redete sie vom „Unternationalen Strafgerichtshof“, von „kokainischimem“ statt ukrainischem Getreide und davon, dass die EU „zukünftlich zu einem besserem Hauptmotor“ werden solle. Wohlgemerkt - wir sprechen hier von Reden, die sie von einem Skript abgelesen hat. Es geht aber auch um „Klopper“ wie den auf ihrer Nigeria-Reise, als sie anlässlich der Rückgabe von Raubkunst davon sprach, das sei ein Zeichen dafür, "dass Deutschland es ernst meint mit der Aufarbeitung seiner dunklen Kolonialgeschichte". Mag ja sein. Problem ist in diesem Fall nur: Nigeria war nie eine deutsche Kolonie. Es geht um Postings auf ihrem Instagram-Kanal. Ein Bild von ihrem Besuch der jüdischen Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem und im gleichen Post direkt darunter ein Bild vom Meer und dazu der Text: „Aber nun kommt endlich wieder die Sonne raus.“ Musste sie sich für entschuldigen, fand man in Israel eher so durchschnittlich passend. Und es geht um Situationen wie die mit ihrem österreichischen Amtskollegen Alexander Schallenberg, der ihr ein österreichisch-deutsches Wörterbuch als Geschenk überreicht und sie sich mit den Worten bedankt: “Herzlichen Dank, Herr Strache!” und schließlich geht es um Auftritte wie bei Markus Lanz, als sie davon sprach, dass Napoleon in Russland einen Panzerkrieg geführt habe. Napoleons Panzerschlachten…wer kennt sie nicht? 

Strich drunter: Deutschland hat scheinbar eine Außenministerin, die unfähig ist, fehlerlos eine Rede von einem Skript abzulesen, die historisch unkorrekte Behauptungen in den Raum stellt oder sich im diplomatischen Porzellanladen so benimmt, dass jeder Elefant vor Schreck zusammenzuckt. 

Der Kobold
Diese „Verhaspler“ und „Vernuschler“ wären mit ein bisschen Training relativ leicht abzustellen. Das Problem ist, dass sie es scheinbar nicht für nötig befindet, das Thema anzugehen. Denn sie macht diese Fehler ja nicht erst seit gestern. Schon vor vier Jahren, in einem ARD-Sommerinterview, sprach sie beständig von „Kobold“, obwohl sie „Kobalt“ meinte. Sie hatte Zeit, es war kein Live-Interview, sie sprach langsam, sie konnte überlegen. Und dennoch – zwei Mal: „Kobold“. Und als sie im Bundestag dafür kritisiert wurde, schoss sie zurück, der Kollege solle mal seine Bildung überprüfen. Das sei die englische Aussprache gewesen. Da checkt der Anglist in mir mal kurz gegen und sagt: Nein – war es nicht.

Stichwort Demut
Frau Baerbock sieht also entweder keine Notwendigkeit, an diesen Problemen zu arbeiten oder sie sieht kein Problem. Beides spricht für die Theorie, dass Annalenas größter Fan Annalena heißt. Nur leider ist sie eben nicht nur „Annalena“. Sie ist die Bundesaußenministerin. Und damit die oberste Diplomatin der Bundesrepublik Deutschland. An dieses Amt wird vor allem eine Anforderung gestellt: Die Fähigkeit, politischen Instinkt mit diplomatischem Geschick zu verbinden. Frau Baerbock hat einen Job, in dem – zugespitzt formuliert – jede hochgezogene Augenbraue einen Effekt haben kann. Es geht nicht um eine „One-Woman-Show“ und die Frage, wer am heftigsten auf den Tisch hauen oder den moralischen Zeigefinger am höchsten erheben kann. Es geht darum, zu wissen, wann man die diplomatischen Waffen steckenlassen kann, wann man sie zeigt, aber nicht zieht und wann man sie einsetzt. Und wenn man sie einsetzt, ob man das verbale Florett oder die Haubitze verwendet. Grundvoraussetzung für diesen Job ist, dass man selbst nicht strahlen will und eben nicht davon ausgeht, dass man die intelligenteste Person im Raum ist. Der Begriff dafür lautet: professionelle Demut. 

Kühe? Schweine? Völkerrecht?
Manchmal sind es ganz kurze Eindrücke, die eine gewisse charakterliche Grundausrichtung gnadenlos ans Licht zerren. 2019 porträtierte der WDR Annalena Baerbock und Robert Habeck in der Reihe „45 Minuten“. Damals war die Grüne Kanzlerkandidatur noch offen. Auf die Frage, was sie von ihrem männlichen Konkurrenten unterscheide, überlegte Baerbock kurz, warf dann dem neben ihr sitzenden Habeck einen süffisanten Blick zu und sagte: „Vom Hause her kommt er…Hühner, Schweine…ich weiß nicht…was haste? Kühe melken…Ich komme eher aus’m Völkerrecht, ja? Da kommen wir aus ganz anderen Welten im Zweifel…“ (ab 24:53). Man achte dabei besonders auf das Gesicht von Robert Habeck.
Wie sagte der „Restaurant-Retter“ Frank Rosin in einer Folge seiner Sendung? „Es geht nicht darum, ob Du glaubst, es zu können. Es geht darum ob Du es kannst. Ich sage Dir: Du kannst es nicht. Und deshalb solltest Du Dich ernsthaft fragen, ob Du den Laden nicht lieber zusperren solltest.“


 

Cui bono...?

Die "letzte Generation" - wenn Fragen zu Fragen führen

20.08.2023 

Warum beschäftigen sich unsere Medien eigentlich nicht mal ernsthaft mit der letzten Generation? Also nicht damit, ihr immer wieder in Talkshows oder Nachrichtenformaten eine Plattform zu bieten und auch nicht, indem man zum gefühlt 24.685sten Mal über ausgelöstes Verkehrschaos, Polizeieinsätze und wütende Autofahrer berichtet. Viel eher geht es um eine investigativ-journalistische Auseinandersetzung mit dieser Gruppierung. Wer ist sie? Wie finanziert sie sich? Wer steht hinter ihr? „Moment", mag der ein oder andere einwenden. „Es gab doch Artikel mit Titeln wie Wer steckt hinter der letzten Generation? Es gab sogar eine zweiteilige Spiegel TV-Reportage darüber.“ Richtig. Die gab es. Letztere ist in Teilen auch wirklich sehenswert. Aber mit wirklich investigativem Journalismus hat das exakt so viel zu tun wie ein verwackeltes Paparazzi-Foto auf dem unscharf eventuell zu erkennen ist, dass Helene Fischer vielleicht schwanger sein könnte. Oder anders: Ihr Neuigkeitswert liegt annähernd bei Null. So jedenfalls habe ich es empfunden. Vielmehr haben diese Beiträge den Eindruck erweckt, als seien sie aus verschiedenen Pressemitteilungen und den Texten der Internetseite der Klima-Kleber zusammengesetzt worden. Bereits bekannte Infos im neuen Gewand. Sie haben genau dort aufgehört, wo sie eigentlich hätten anfangen müssen. Die Frage, die sich also aufdrängt: „Kann keiner?“ – was durchaus möglich ist oder „Will keiner?“ – was ich ebenfalls nicht in Abrede stellen möchte. Denn – ganz objektiv: Gründe, der letzten Generation mal ein bisschen exakter auf die Finger zu gucken, gibt es genug. 

Die Öko-Ziele
Bereits die Antwort auf die Frage „Welche Ziele verfolgt die letzte Generation?“ löst meistens zumindest Erstaunen aus. Gemessen an den Aktionen geht die Radikalität der Forderungen gegen Null. Weder geht es um besonders niedrige CO2-Grenzwerte oder um den sofortigen Kohleausstieg oder etwas Extremes wie eine Quote für Windräder in Naturschutzgebieten. Die erste – ganz offizielle Forderung – lautet: Tempolimit 100 auf der Autobahn. That’s it. Nicht mehr. Da staunt der Fachmann und der Laie wundert sich. In der Hoffnung auf etwas Essenzielleres fragt man also nach dem zweiten Ziel. Die Antwort: Ein flächendeckendes 9-Euro-Ticket in ganz Deutschland. Fertig. 
Nochmal ganz deutlich: All die jungen Menschen, die sich unter Einsatz ihres Lebens (und das ist nicht ironisch gemeint) mit nachweislich gesundheitsschädlichem Alleskleber auf die Straße zementieren. Die ihr Studium abbrechen, riskieren, von durchdrehenden LKW-Fahrern auf die Hörner genommen zu werden und in jedem Interview mit tränenerstickter Stimme von der nahenden Apokalypse berichten, nehmen das alles auf sich für Tempo 100 und ein 9-Euro-Ticket? Beim ersten Ziel gehen die Fachmeinungen so weit auseinander, dass keiner weiß, wie hoch der Nutzen wirklich ist und das zweite macht nur dann Sinn, wenn der ÖPNV flächendeckend funktioniert – was hierzulande nicht der Fall ist und weshalb in ländlichen Gebieten niemand auf sein Auto verzichten wird. Ganz einfach, weil er es nicht kann. 

Fazit 1: 
Die ökologischen Ziele der letzten Generation machen nur sehr bedingt Sinn und muten im Verhältnis zur Radikalität ihrer Aktionen fast schon lächerlich an.
 

Das politische Ziel
Das dritte Ziel wird meist in einem Atemzug mit den anderen beiden genannt, sollte aber gesondert betrachtet werden. Es kratzt so ein bisschen die Patina des „überpolitischen Umweltaktivismus“ an, den die Gruppe vor sich herträgt, und lässt darunter auch eine politische Agenda zum Vorschein kommen. Die letzte Generation fordert einen sogenannten Gesellschaftsrat. Dieser soll auf Basis des Zufallsprinzips zusammengesetzt werden und so unsere Gesellschaft spiegeln. Laut ihrer Internetseite wird so „die Bevölkerung nach wichtigen soziodemographischen Merkmalen abgebildet – eine Art “Deutschland in klein” kommt zusammen.“ Die Ergebnisse würden dann an die Bundesregierung und das Parlament weitergegeben, die sich – und jetzt achten wir bitte auf das Hilfsverb – mit diesen beschäftigen müssen. Vor kurzem interviewte der Hessische Rundfunk Michael Pfundstein von der letzten Generation dazu. „Warum wollen sie den Gesellschaftsrat?“ Die hochinteressante Antwort: Man habe festgestellt, dass die „Demokratie, wie sie derzeit agiert, es offensichtlich nicht schafft[…]deshalb müssen wir sie wieder handlungsfähig machen.“ Hier kann man das Ganze nachhören.

Fazit 2: 
Die einzige politische Forderung der letzten Generation widerspricht dem Grundgesetz. Nur der Bundestag und seine gewählten Vertreter bringen Themen ins Parlament ein. Bürger und Interessensgruppen tun dies über ihre Abgeordneten. Zum anderen konstatieren Vertreter der letzten Generation unserer demokratische Mehrheitsgesellschaft ein schwaches, falsches Verhalten. Deshalb muss sie mit einer in ihrem Sinne handlungsfähigen Gruppe ersetzt werden.
 

Mehrheiten sind unwichtig
Ein weiteres Fragezeichen steht hinter der prinzipiellen Ausrichtung der Gruppe. Man muss keine Minute Psychologie studiert haben, um zu wissen: Wenn ich ein großes Ziel erreichen will, das große Teile dieser Gesellschaft betrifft, brauche ich eine möglichst breite Unterstützung dieser Gesellschaft. Ich brauche Partner, ich brauche Verbündete. Genau darauf aber pfeift die letzte Generation. Sie geht keinen Schritt auf irgendjemanden zu. Frei nach dem Motto: „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.“ Das ist nicht nur unklug und sinnlos, weil es schlichtweg zu nichts führt. Es ist auch zutiefst antidemokratisch, da die Mehrheit – nach aktuellen Umfragen sind es 85% der Deutschen – sich eindeutig gegen die Aktionen ausspricht. Wohlgemerkt: Nicht gegen mehr Klimaschutz. Laut Duden definiert sich Diktatur wie folgt: „unumschränkte, andere gesellschaftliche Kräfte mit Gewalt unterdrückende Ausübung der Herrschaft durch eine bestimmte Person, gesellschaftliche Gruppierung, Partei o. Ä. in einem Staat.“ Selbst der Kopf von Fridays For Future – Luisa Neubauer – distanziert sich inzwischen von den Klebern: „Politischer Wandel kommt nicht kategorisch schneller, indem man zu radikaleren Maßnahmen greift." 

 

Fazit 3: 
Die letzte Generation negiert die demokratische Willensbildung in diesem Land. Sie verübt gezielt und gewollt Straftaten wie Nötigung und agiert streng nach dem politischen Staatsverständnis von Machiavelli, bei dem der Zweck die Mittel heiligt.
 

Spenden und Crowdfunding
Unmengen an Kleber, Plakate, eine extrem gut gestaltete funktionelle Internetseite, Räume für Treffen, Verpflegung, Fahrtkosten…natürlich braucht auch die letzte Generation Geld. Und natürlich wurde sie danach gefragt, wie sie sich finanziert. Die offizielle Antwort: Etwa 900.000 Euro an Spenden und Crowdfunding. Das klingt erst man nach zwei Begriffen für ein und dasselbe, ist es aber nicht. Es ist sogar ein himmelweiter Unterschied. Spenden unterliegen hierzulande gewissen Regeln und Restriktionen. Parteien zum Beispiel dürfen anonyme Geldspenden über 500 Euro nicht annehmen oder die Spenden dürfen dann nicht anonym sein. Bei Vereinen ist das ein wenig anders. Aber auch hier gibt es rechtliche Limits. So darf zum Beispiel für eine Spende keine Gegenleistung erwartet werden, etc… Diese Beschränkungen gibt es zum einen, um Geldwäsche vorzubeugen, zum anderen aber auch, um eine gewisse Transparenz zu erhalten. Gegen einen Kulturverein, der sich um die Erhaltung alter, deutscher Traditionen kümmert, indem er zum Beispiel Leseabende veranstaltet, ist nichts einzuwenden. Wenn dieser Verein aber regelmäßig hohe Summen von einem Verlag erhält, der rechtsradikale Bücher verlegt, lohnt es sich, mal ein Auge drauf zu werfen. Diese Restriktionen und Regeln gelten für juristische Personen wie Parteien, Vereine und Unternehmen und für natürliche – also – Privatpersonen. Kurz - spätestens beim Rechenschafts-, bzw. Jahresbericht wird relativ klar, welche Summen in welchen Höhen anonym oder nicht-anonym geflossen sind. 
Ganz anders sieht das aber bei Crowdfunding aus. Jede Privatperson kann im Rahmen eines Crowdfundings Geld einsammeln. Weder gibt es hier eine Begrenzung in der Höhe, noch gibt es Vorschriften zur Transparenz. Denn im rechtlichen Sinn handelt es sich bei Crowdfunding nicht um Spenden, sondern um Schenkungen. Und im Unterschied zu Unternehmen und Vereinen muss eine Privatperson weder einen Jahresabschluss vorlegen, noch seine Gemeinnützigkeit nachweisen, bei der eine anonyme Zahlung in fünfstelliger Höhe zumindest mal Fragen aufwerfen würden. 

Fazit 4: 
Für natürliche Personen ist es über Crowdfunding relativ einfach, Geld in jeder Höhe zu generieren, ohne dabei die Anonymität der Geldgeber preisgeben zu müssen.
 

Herr Blechschmidt
Interessant ist dann eben, dass genau das auf die letzte Generation zutrifft. Sie ist weder ein Verein noch eine Partei und auch keine gemeinnützige GmbH – sie ist überhaupt keine juristische Person. Im Wesentlichen ist die letzte Generation eine Privatperson namens Ingo Blechschmidt. Herr Blechschmidt ist Mathematiker aus Augsburg und gilt als der „Urvater“ der Bewegung. Er selbst tritt kaum in der Öffentlichkeit auf, und wenn – dann nur an Info-Ständen in seiner Heimatstadt. Alle anderen Sprecher und Aktivisten, die wir aus Pressberichten und Beiträgen kennen, gehören zu einer losen Gruppe, die sich zwanglos unter den Farben der letzten Generation versammelt. Wenn also die letzte Generation zum Crowdfunding aufruft, dann ruft Herr Blechschmidt als Privatperson zu Schenkungen auf. Flankiert wird er dabei von einer Augsburger Anwaltskanzlei, die zustellungsbevollmächtigt ist – also in seinem Namen handeln darf. 
Kommen wir zurück zu den 900.000 Euro, die die letzte Generation laut eigener Angabe im vergangenen Jahr eingenommen hat. Das klingt erst mal nach viel Geld, aber es wird auch dringend von ihr benötigt. Denn – aufgemerkt – die Gruppe zahlt einigen ihrer Aktivisten eine Art Gehalt als Aufwandsentschädigung. Natürlich erfährt man nicht genau, wer wieviel Geld bekommt. Aber der monatliche Verdienst als Full-Time-Klima-Kleber liegt zwischen 950,00 und 1.200,00 Euro für Singles. Verheiratete Personen mit zwei Kindern erhalten 1.800,00 Euro. Netto – versteht sich. Hier kann man das nachlesen (ohne Paywall gibt es hier eine Zusammenfassung). Insgesamt treten für die Kleber rund 700 Aktivisten in Erscheinung. Wenn nur 10% davon ein niedrig gemitteltes „Gehalt“ von 1.200 Euro bekommen, laufen dort jährlich rund 1 Million Euro reine „Personalkosten“ netto auf die Uhr. Dazu kommen dann noch die offiziellen Ausgaben, wie oben genannt, die die letzte Generation mit 535.000 Euro angibt. Wir würden hier also von mindestens rund 1,5 Millionen Euro sprechen.

Fazit 5: 
Sowohl die Geldbeschaffung der Gruppierung ist nebulös, als auch deren Ausgaben. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass ein Teil der Aktivisten für das, was er tut, bezahlt wird.

 

Brainwashing
Zwei Dinge fallen jedem sofort auf, der mehr als ein Interview mit Klima-Klebern gesehen oder gelesen hat. Erstens: Sie bedienen alle das gleiche Wording. Sie sprechen von drohenden Hungersnöten, Wüstenbildung, Gletscherschmelze, Flutkatastrophen und – früher oder später fallen ausnahmslos bei allen, die ich gehört, gesehen oder gelesen habe, verzweifelt vorgetragene Sätze wie „Warum muss ich das alles tun?“ oder „Ich würde auch lieber studieren, aber es tut ja sonst keiner was.“ Zweitens: Diese meist jungen Menschen glauben ganz fest an die Horrorszenarien, die sie da beschreiben. Das könnte damit zusammenhängen, dass sie genau diese Angst vom ersten Tag ihres Engagements an in ihre Köpfe massiert bekommen. Denn allen „Neuen“ werden erst einmal Vorträge angeboten. Wer möchte, kann sich diese sieben Tage in der Woche anhören – online und offline. In allen geht es um nichts anderes als die drohende Apokalypse und die absolute Ausweglosigkeit, in der sich unsere Gesellschaft befindet. Flankiert werden diese „Vorträge“ von "Trainings". Sowohl solchen, in denen gelernt wird, wie man sich bei einer Aktion verhält. Aber auch anderen. Und zwar jede Menge davon. Wer möchte, kann sich hier einen eigenen Überblick verschaffen. Vom Gerichtsprozess-Training über die Frage, wie man mit minimalen Mittel maximales Chaos veranstaltet, bis hin zu „psychologischem Input“ im „Safe Space“ – was nichts anderes ist, als das Bestärken von Aktivisten innerhalb der eigenen Blase.
An dieser Stelle eine Frage: Wie nennt man eine Gruppe, deren Mitglieder das „große Ganze“ über das persönliche Glück, den Beruf oder das Studium stellen und – wenn es sein muss – dafür auch mit der eigenen Familie brechen? Deren Mitglieder nicht im Ansatz kritisch hinterfragen, was ihnen erzählt wird und wozu sie aufgefordert werden, weil ihr Hirn durch eine Art Dauerbeschallung konditioniert wurde? Deren Mitglieder so trainiert wurden, dass man von allen – egal wen man fragt – nicht nur die gleichen Antworten, sondern sogar fast die gleichen Sätze als Antwort erhält? Deren Mitglieder nichts anderes als die eigene Überzeugung gelten lassen und sich jeder Art vernunftgestützter, verbaler Auseinandersetzung entziehen und, anstatt zuzuhören, auswendiggelernte Sätze herunterbeten? Richtig. Solche Gruppen heißen im allgemeinen Sprachebrauch Sekten.

Strich drunter
Fassen wir also mal zusammen. Die letzte Generation ist eine Gruppe, deren Führungsriege niemand kennt. Es ist möglich, dass sie sich zu einem Teil aus anonymen Schenkungen finanziert, die nicht zurückverfolgt werden können. Sie missbilligt ausdrücklich die bestehenden demokratischen Grundlagen unseres Landes und etikettiert einen diktatorischen Polit-Ansatz und ihre Absage an die Mehrheitsgesellschaft als „zivilen Ungehorsam“. Dabei bedient sie sich – ähnlich einer Sekte – vorwiegend junger Menschen, denen sie mit Hilfe von „Vorträgen“ die Angst vor der bevorstehenden Apokalypse ins Hirn pflanzt und sie anschließend Aktionen ausführen lässt, bei denen diese sich strafbar machen können. Zwar übernimmt die Gruppe die Zahlung der Geldstrafen, sie nimmt aber billigend in Kauf, dass alle von einem Gericht verurteilten Aktivisten einen Eintrag in ihre persönliche Strafakte erhalten oder – bei einer Gefängnisstrafe – vorbestraft sind. Dies alles, um Ziele zu erreichen, von denen die positive Wirkung des einen fragwürdig und das andere vollkommen sinnfrei ist, weil die nötige Infrastruktur nicht besteht. Deshalb ist man auch keinem dieser Ziele trotz all der Proteste auch nur einen Schritt nähergekommen.

Dafür hatten die Proteste aber einen anderen Effekt: Durch die Aktionen wurde die Spaltung unserer Gesellschaft so vorangetrieben, dass viele inzwischen von einem „Kulturkampf“ sprechen. Was also übrigbleibt, ist eine vollkommen intransparente, gesichtslose Gruppierung, durch deren Aktionen mit einer nie vorher dagewesenen Vehemenz jeden Tag offensiv die Spaltung unserer Demokratie vorangetrieben wird. 

Nach so vielen Ungereimtheiten und Fragen stellt sich eigentlich nur noch eine: „Cui Bono?“ – Wem nutzt es? 
 

Ich spreche, also bin ich

Sprache per Dekret? Keine Chance

06.08.2023 

Von 1985 bis 1989 gab es nicht wenige Menschen in Bayern, die jeden Freitag um exakt 15:45 Uhr das Radio einschalteten. Sogar in Büros oder Arztpraxen – damals noch vollkommen verpönt – wurde einmal in der Woche für eine Viertelstunde Bayern 3 eingeschaltet. Der Grund war die BR-Radioshow. Oder besser gesagt, Ihre Moderatoren: Thomas Gottschalk und Günther Jauch. Gottschalk moderierte von 13:00 bis 16:00 Uhr und übergab dann für nächsten drei Stunden an Jauch. Diese Übergaben entwickelten sich schnell zu einer Art Hochamt. Loses Mundwerk trifft auf staubtrockenen Humor. Ein Quotenhit. Gottschalk war damals das „entfant terrible“ der deutschen Radiolandschaft. Seine Art Radio war nicht geskriptet, folgte keinem Plan, hatte keine Message und kam komplett aus dem Bauch. Und das hieß auch, dass er bei den Senderchefs des Bayerischen Rundfunks öfter mal für Schweißausbrüche sorgte. Er bestimmte er ganz allein, welche Musik er spielte oder wen er als Gast in die Sendung einlud und wen nicht. Während der BR zum Beispiel „Jeanny“ boykottierte, lud er Falco ins Studio ein und gab ihm eine Plattform, um über den Boykott zu sprechen. Um so ungewöhnlicher nimmt es sich dann aus, dass er zwei englische Musiker 1986 auf Wunsch des Senders wieder auslud.

G-g-g-g-geil
Dabei stürmten die beiden Briten Bruce Earlam und Douglas Wilgrove gerade die deutschen Charts. Als Band nannten sie sich „Bruce & Bongo“ und ihr Hit, der damals von einigen Radiostationen aus Pietätsgründen nicht gespielt wurde, hieß „Geil“. Vollkommen sinnfreier Elektro-Spaß-Pop, in dem das einzige deutsche Wort – eben das Wort „Geil“ – irgendwie verhackstückt wurde. Kleine Kostprobe: „The disc-jockey's geil (G-g-g-g-geil). The disc-jockey's geil (G-g-g-g-geil). I said the disc-jockey's geil (G-g-g-g-geil).G-g-geil, g-g-geil.“ Wer sich das in voller Länge mal antun möchte…hier geht’s zum Video. Der Eklat um den Song entspann sich aufgrund der Tatsache, dass der Begriff sich mitten in der sogenannten „semantischen Transformation“ befand. Damalige Jugendliche verwendeten ihn bereits so, wie wir ihn heute verwenden. Für deren Eltern und Großeltern war es aber absolute „Gossensprache“ aus dem untersten Regal. Geil war rein sexuell konnotiert. Aber nicht im positiven oder erotischen Sinn. Geil war schmutzig. Ein Tabuwort. Und nicht genug damit, dass man immer öfter Jugendliche hörte, die dieses schlimme Wort benutzten. Jetzt kamen auch noch diese beiden Engländer und sangen es. Was für ein Skandal! Aber – wie wir heute wissen: Die Transformation ist beendet und geil längst in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen.  

Die Quadratur des linguistischen Kreises
Einerseits ein schönes Beispiel dafür, dass Sprache und Gesellschaft eine Einheit bilden. Sprache kann nicht von einer Gesellschaft getrennt und singulär betrachtet werden. Die Gesellschaft mit ihren jeweils herrschenden Normen bildet die Basis. Sprache ist nicht mehr und nicht weniger als ein Vehikel, das es möglich macht, diesen Normen Ausdruck zu verleihen. Jugendliche in den 80er Jahren fanden das Wort gut und benutzten es. Die Generation derer, die es „igitt“ fand, wurde älter, hatte immer weniger Einfluss auf die Gesellschaft und das Wort wurde schließlich enttabuisiert. Was aber eben ein schönes Beispiel für die Funktion von Sprache ist, sind andererseits ziemlich schlechte Nachrichten für all die Menschen, die seit ein paar Jahren versuchen, die linguistische Quadratur des Kreises zu schaffen, indem sie mit Vehemenz Sprach-Regeln entweder fordern oder sogar selbst aufstellen, an die sich andere zu halten haben. Diese Sprachpolizisten haben genau diese grundsätzliche Funktion von Sprache nicht verstanden. Sie lässt sich nicht aufoktroyieren. 

Lingvo ne povas esti planita
Würde das funktionieren, dann wüssten wir alle, wer Ludwik Zamenhof ist. Der polnische Augenarzt entwickelte Ende des 19. Jahrhunderts die Plansprache „Esperanto“. Sein hehres Ziel: Die Erfindung einer Weltsprache. Leicht zu lernen. Mit Bestandteilen aus den wichtigsten Sprachfamilien der Welt. Zamenhof entwickelte eine eigene Grammatik, ein eigenes Wörterbuch…und…ist damit krachend gescheitert. Dabei könnte man meinen, Esperanto zu lernen ist doch auch nichts anderes, als wenn man Französisch, Spanisch oder Englisch lernt. Eben nicht. Eine Sprache ohne eine Gesellschaft, die sie tagtäglich nutzt, deren Kultur, deren Identifizierung, kann nicht überleben. Weil sie eben mehr ist, als das Aneinanderreihen von Worten. Aktuell sprechen weltweit ca. 8.000 Menschen Esperanto - die Mitglieder des Esperanto-Weltbundes. Und für all die, die jetzt sagen: „Naja. Einer hat es mal versucht. Dafür, dass das nicht geklappt hat, kann es viele Gründe geben.…Insgesamt sind seit dem Jahr 1817 nicht weniger als 86 Versuche bekannt, eine solche Plansprache zu entwickeln und zu installieren. Der jüngste stammt aus dem Jahr 2019 und heißt „Globasa“.

Eingriff in die Intimsphäre
Viele Menschen sind durch die aktuellen Umtriebe und die Versuche des „woken“ Teils unserer Gesellschaft verunsichert, äußern absolutes Unverständnis oder sind einfach wütend. Der Begriff „Gendern“ ist inzwischen zu einem Trigger geworden, der beide Seite innerhalb von Sekundenbruchteilen auf die Barrikaden bringt. Das ist so, weil hinter jeder Änderung der Sprache "per Dekret" der Versuch steht, nicht nur die Sprache der Menschen zu verändern, sondern auch ihr Verhalten, ihr Denken. Das empfinden viele als einen unerhörten Eingriff in ihre Intimsphäre. Wenn man bedenkt, dass Sprache nicht isoliert betrachtet werden kann, sondern ein Teil von uns ist, haben diese Menschen auch Recht. Der aktive Eingriff in Sprache ist eine Grenzüberschreitung. Und wer sie mit Gewalt verändert, tut das immer aus ideologischen Gründen. Diese Gründe mögen positiven Ursprungs sein, wie etwa die Entwicklung einer Weltsprache oder woken Ursprungs, wie das Postulat nach unendlicher Individualität oder auch politischen Ursprungs. Nicht umsonst haben alle aktuellen und ehemaligen politischen Regime eines gemeinsam: die Beeinflussung der Sprache durch Bücher, Filme und Medien. Was sie aber ebenfalls alle gemeinsam haben: Sobald die Regime nicht mehr existieren, stirbt auch deren Sprache.

Mitmachen - oder eben nicht
Das alles macht den Streit um politisch korrekte oder woke Sprache so überflüssig. Das ist in etwa so, als würden sich zwei Parteien an der Nordsee gegenüberstehen, von denen die eine fordert, es müsse jetzt sofort Ebbe sein, während die andere nichts anderes als die Flut gelten lässt. Ob das Wasser aber zu- oder ablaufend ist, können sie nicht mal im Ansatz beeinflussen. Wer sich also demnächst durch individuelle Pronomen, Wortschöpfungen wie „die Grundbesitzenden“ oder ein Sternchen in einem Text all zu sehr provoziert fühlt: Zurücklehnen, entspannen und einfach nicht mitmachen. Wer diese Sprache favorisiert, weil er mit ihr ein Zeichen für Inklusion und Diversität setzen möchte, soll exakt das tun. Mit der Brechstange wird aber weder in die eine noch in die andere Richtung etwas gehen. Denn Sprache sucht sich ihren eigenen Weg. Hat sie schon immer getan. 
 

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